Vielleicht zum Jahreswechsel einfach mal alles Alte hinter sich lassen und Platz schaffen für das Neue? Geht ziemlich gut mit Feuer. Vom Loslassen, vom Hinter-sich-lassen und vom Sich-Befreien aus alten Geschichten. Und von Wut und Schreien im Auto.
Es ist ein Novemberabend. Es ist kalt. Es ist dunkel. Ich sitze, mit dicken Hauspuschen an den Füßen und eingekuschelt im dicken Strickmantel, auf meiner Terrasse. Vor mir auf dem Gartentisch ein Backblech. Auf dem Backblech ein riesiger Haufen zerrissener Papierschnipsel. Ich sehe mir den Haufen ein letztes Mal so an. Und zünde ihn dann mit langen Streichhölzern an mehreren Enden an.
Ich sehe zu, wie sich die Flammen langsam durch die Papierschnipsel züngeln. Immer größer werden. Ich sehe zu, wie sich die Flammen verändern. Blau, gelb, rot wabern sie leise und knisternd vor sich hin. Ich sehe zu, wie die Flammen durch den Schnipselhaufen wandern, sich leise, bedacht und ohne Gier das nehmen, was vor ihnen liegt. Und die Schnipsel verwandeln. Die Schnipsel, die welken, die schwarz und grau werden, die ihre Form verändern, die sich kräuseln. Wie das, was darauf steht, verschwindet und von den Flammen inhaliert wird. Ich bin total ruhig und fasziniert.
Das Feuer-Spektakel dauert überraschend lange. Ich dachte, ich zünde alles an, dann gibt es eine riesige Flamme und dann ist alles weg. Aber es ist ganz anders. Es ist ein wunderschöner, langsamer Transformationsprozess. Rauch und Dampf entsteht, und das zu Dampf gewordene Papier schwebt nun elegant in den Nachthimmel. Rote leuchtende Glut. Und übrig bleibt ein wunderschönes Gebilde aus weißer, grauer Asche, die noch die Papierform erahnen lässt. Ich greife vorsichtig hinein, und alles zerfällt zu Staub. Alchemie.
Ich lasse das Blech draußen stehen. Ich will es noch nicht herein holen und die Asche wegschütten oder wegspülen. Etwas hindert mich daran. Ich lasse das Blech noch einige Tage draußen stehen und beobachte fasziniert, wie der Wind immer mehr davon verteilt, alles in verschiedene Richtungen davon fliegt. Dann regnet es. Der Regen weicht das, was noch übrig ist, auf und formt es zu grauen Klumpen. Blätter legen sich darauf. Graue Matschsuppe auf dem Blech. Alles trocknet wieder. Und der Wind macht wieder seine Arbeit. Nach einer Woche ist auf dem Blech noch ein kleiner Klumpen übrig. Finally, ich nehme es mit herein, spüle den letzten Rest Asche herunter und mache das Blech sauber.
Alchemie, Loslassen, Befreien
Manchmal brauchen wir Rituale. Gerade Feuer und der Akt, etwas zu verbrennen, ist ein mächtiges und wirksames Ritual. Denn es ist Alchemie. Dinge verändern ihren Zustand. Dinge verschwinden. Eben noch da, ein kleines Streichholz, und dann, zu Asche, zu Staub, zu Dampf und Rauch, hinfort wehen sie in den Wind in alle Richtungen, von den Flammen alchemisiert und zerlegt in kleinste Moleküle.
Ich hatte mein kleines Backblech-Terrassen-Feuerritual nicht geplant. Es war ein Impuls, dem ich direkt folgte. Es musste sein. In genau diesem Moment.
Auf dem Blech stapelten sich von mir zerrissene Papierfetzen. Auch schon das Zerreißen gehört zum Prozess dazu. Das tut so gut. Was waren das für Papierfetzen?
Es waren angesammelte Notizen, Gedanken, seitenweise hingekritzelte Tagebuch-Aufzeichnungen, Notizen von Coachings und Seminaren, viele Gedanken, zu Papier gebrachte Gefühle, Erkenntnisse, in all ihren Facetten und Ausprägungen.
Es gab in meinem Leben die letzten Monate, das letzte Jahr, einige Themen und Herausforderungen, denen ich mich gestellt habe und auch stellen musste. Allein. Und auch mit Hilfe. Es ging dabei um die großen Lebensrucksäcke, die wir wohl alle mit uns rumtragen: Beziehungen, Liebe, Identität, Muster, Verhaltensweisen, Schmerzen, Verletzungen, Ängste, Prägungen aus der Kindheit und deren Einfluss und so weiter und so fort. Wie bin ich geworden, wie ich bin und warum? Und was hat das zur Folge? Wie verhalte ich mich wann und wie und warum? Und was davon dient mir? Und was so gar nicht? Wer ist meine Persona und was will meine Seele? Wo handele ich kongruent und integer zu dem, was ich wirklich will und bin? Und wo nicht? Und warum? Wer bin ich denn eigentlich? Und wer glaubte ich denn eigentlich zu sein? Und warum? Und welchen Einfluss hat all das auf jegliche Beziehung in meinem Leben? Und wie komme ich aus destruktiven Mustern und Verhaltensweisen raus? Und wohin will ich denn dann eigentlich? Das volle Programm eben.
Geschichten in Dauerschleife und Schreien im Auto
Ich habe in diesem Prozess so viel lernen dürfen. Und bin auch noch mitten drin. Und wahrscheinlich endet dieser Prozess auch nie so wirklich. Das Leben stellt uns ja immer wieder vor neue Aufgaben und Herausforderungen.
Ich habe in diesem Prozess auch Themen und Zusammenhänge entdeckt, die ich jahrelang verdrängt hatte bzw. als lächerlich, zu offensichtlich und klischeehaft immer wieder abgewunken hatte. Und plötzlich musste ich mir eingestehen, was für einen immensen Einfluss sie auf mich hatten.
Ich habe in diesem Prozess Kindheitserinnerungen und Erlebnisse ausgegraben (ich spreche bewusst nicht von Trauma), von denen ich erst heute verstehe, wie sehr sie für bestimmte meiner Ängste verantwortlich sind. Und wie oft ich mich unbewusst immer wieder in ähnliche Situationen manövriert und mich daran jahrelang abgearbeitet und darin abgestrampelt habe.
Das auszugraben, das zu erkennen, das zu verstehen, es ins Bewusstsein zu holen, war und ist unglaublich wichtig. Denn nur, was uns bewusst ist, können wir mit bewussten Entscheidungen und anderen Handlungsmustern verändern und in andere Richtungen lenken.
Doch dann passierte etwas interessantes: Ich merkte, wie ich mir diese Geschichten in Dauerschleife erzählte. Du bist so, weil. Das ist so, weil. Du fühlst so, weil. Schön und gut, das zu wissen. Aber es hielt mich genau darin gefangen. Es hinderte mich an meiner Veränderung. Dann kam irgendwann der Punkt, wo ich so „done“, so „durch“, so „sick of it all“ war und wurde, ich war richtig „abgefucked“, ich war so wütend. Auf mich, auf alles, auf diese Geschichten und deren Beteiligten.
Ich bin ins Auto gestiegen, bin auf die Autobahn gefahren, habe die aggressivste Musik, die Spotify hergeben konnte, auf volle Laustärke gestellt. Und dann habe ich geschrien. Einfach nur laut geschrien. Bei Tempo 130 auf der Autobahn, wo es wirklich niemanden juckt. Geht nämlich nicht zu Hause, auch nicht in ein Kissen, nicht im Wald, aus Gründen. Ich hatte mein ganzes Leben nie Wut, war nie laut, war nie wütend. Und merkte plötzlich, wie sehr das alles in mir rumorte. Und dass ich dem nie Ausdruck verliehen hatte. Und ein Teil von „Heilung“ ist, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Sie raus zu lassen. Und dann saß ich da, habe mir die Seele aus dem Leib geschrien, befeuert von der Aggro-Musik, die mir alle Hemmungen nahm, ich habe schreiend geschimpft und geflucht. Und oh mein Gott, war das herrlich. Tat das gut. Es war so unglaublich befreiend.
Und ich möchte das an dieser Stelle dringend jedem empfehlen, vor allem den Kandidat:innen, die meinen, noch nie in ihrem Leben Wut empfunden zu haben. Oh doch Baby, du hast Wut. Und was für eine. Lass sie raus. Is geil.
Nach 20 Minuten war es auch genug. Und ich war ruhig. Musste lachen. Fühlte mich leichter. Und gut. Dann bin ich wieder nach Hause gefahren. Und habe weiter gearbeitet.
Eine Erkenntnis aus dem Wutschreien im Auto auf der Autobahn bei 130 Sachen war, dass ich genug habe und genug hatte von all diesen, all meinen Geschichten. Dass ich mich nicht mehr an und in ihnen abarbeiten und absprampeln will. Dass es gut war und gut ist, sie zu erkennen, sie ins Bewusstsein zu holen. Aber dass es nun an der Zeit ist, mich aus ihnen zu befreien. Die Klarheit: Ich will mir diese Geschichten nicht länger erzählen. Ich will da raus. Ich muss da raus. Ich will nicht länger in meinen eigenen Geschichten gefangen sein und wie in einer Gummizelle in ihnen rumtoben. Und dabei irgendwann irre werden.
Nach Vorn
Ich will mir neue Geschichten erzählen und ich will neue Geschichten schreiben. Ich will das weiße Blatt. Ich will Neuland. Ich will den Reset. Ich will nach vorn. Und nicht zurück. Ich will das Neue, ohne das Alte im Rucksack mitschleppen zu müssen. Ich will nach vorn, ohne den Blick zurück. Radikal.
Und nein, das heißt nicht, dass alles Alte vergessen und verdrängt wird. Schließlich kann man sich nur aus und von etwas befreien, wenn man weiß, woraus und wovon man sich befreien will. Das Alte hat seine Daseinsberechtigung. Aber das Alte bekommt nicht mehr meine Aufmerksamkeit, zumindest nicht mehr so intensiv wie früher. Das Alte darf auch weiter da sein. Es gehört ja auch zu mir. Aber es darf nun wie Teflon von mir abrutschen. Denn ich habe mich genug daran abgearbeitet. Und jetzt ist finito, basta, Sense. Vorbei. Es reicht. Genug.
Und um genau dieses „es reicht“ und das neue, weiße Blatt zu manifestieren, dafür brauchte ich etwas. Die Erkenntnis, meine alten Geschichten wirklich verlassen zu wollen, war stark. Das Gefühl von „Ich muss da raus“ war stark. Und doch brauchte es noch etwas Zazaou und Magie und Alchemie, eben ein Ritual, um es wirklich zu manifestieren. Und auch etwas radikales. Aufzeichnungen zu zerreißen, ist radikal. Feuer ist noch radikaler. Etwas zu verbrennen, ist radikal. „Radikal“ stammt vom lateinischen „radix“ ab und heißt so viel wie Wurzel. Vielleicht muss man sich immer mal wieder entwurzeln um sich wieder neu zu verwurzeln.
Und so saß ich vor meinem Feuer. Und es fühlte sich gut an. Leicht. Richtig. Befreiend. Ich atmete und seufzte lang. Ich fand es schön, zu beobachten, wie alles langsam im Feuer schmolz, sich veränderte, und schließlich von Wind und Regen die nächsten Tage in alle Himmelsrichtungen weggetragen wurde, ganz ohne mein Zutun. Ich sagte freundlich Danke und Tschüss. Aber nicht „Auf Wiedersehen“.
Ist es einfach, nach vorn zu wollen? Nein. Natürlich gibt es immer wieder Momente und Situationen, in denen ich spüre, wie die Geister der alten verbrannten Geschichten mich immer wieder reinziehen wollen. Und das ist auch okay. Jahrzehntelange Geschichten und Verhaltensweisen hinterlassen (nicht zuletzt neuronale) Spuren, die einfach noch da sind, und die wohl auch noch eine Weile da sein werden, und die es so einfach wäre sie wieder zu gehen.
Aber der Entschluss, nach vorn zu wollen und nicht zurück, hilft. Auch das Feuer hilft. Ich habe die alten Geschichen verbrannt. Und dann packe ich mich selbst am Kragen, drehe mich, mal mehr, mal weniger sanft, selbst um und sage mir, Darling, da geht´s lang! Und zeige mir den Weg nach vorn. Manchmal sträube ich mich und zeige zurück und es kommen bockig-trotzige „ja Aber´s“ aus mir raus und ich will mich offentlich schon wieder ins Rabbit Hole reinziehen lassen. Aber nix da. Umdrehen. Nach vorne. Da gibt´s schließlich auch noch genug zu tun. Und viel zu gestalten. So, wie ich das will. Und nicht, wie meine alten Geschichten es mir vorschreiben wollen.