Longevity-Forschung ist das heiße Ding. Wissenschaftler arbeiten mit Hochdruck daran, uns allen ein Ticket für die ganz lange Fahrt zu verschaffen: 120 Jahre Leben, und zwar nicht gebrechlich, sondern topfit, mit knackigen Muskeln und klarem Verstand. Biotechnologie, Zellverjüngung, personalisierte Medizin – das volle Programm. Klingt super? Ja. Oder?
Ich ertappe mich dabei, wie ich zynisch lache. Wer will denn in dieser Welt 120 werden? Das fühlt sich derzeit eher wie eine verlängerte Gefängnisstrafe an. Wer will sich das noch doppelt so lange antun? Vielleicht ist Zynismus nie eine gute Reaktion, Zynismus ist immer ein Zeichen von Hoffnungslosigkeit. Aber wenn ich mir die Welt so anschaue, ist die Hoffnung doch ein ziemlich wackeliges Konstrukt.
120 Jahre – aber wofür?
Stellen wir uns das einmal vor: Ein langes Leben. Länger als unsere Urgroßeltern es sich hätten träumen lassen. Aber in welcher Welt? In einer, in der die Klimakrise unser Wetter zermürbt und der Planet vor Hitze stöhnt? In einer, in der immer mehr autokratische Herrscher an den Hebeln der Macht drehen und die Demokratie langsam aber sicher zur Kulisse schrumpft? In einer, in der der Krieg in Europa nicht mehr nur eine dunkle Erinnerung aus Geschichtsbüchern ist, sondern sich wieder mit dröhnenden Panzern und explodierenden Granaten in unsere Gegenwart frisst?
Dazu der ewige Tanz um Macht und Gier. Die ewig gleiche Choreografie: Die einen besitzen alles, die anderen nichts. Rassismus und Diskriminierung als zähe, nicht auszurottende Parasiten in unserer Gesellschaft. Die Kluft zwischen Arm und Reich klafft weiter auf, und während einige für ihren dritten Privatjet einen neuen Hangar brauchen, zählen andere Centmünzen für eine Packung Nudeln. Die Digitalisierung rast voran, aber statt eine goldene Zukunft zu bringen, erschöpfen wir uns in endlosen Meetings über Meeting-Kultur, während Algorithmen entscheiden, was wir lesen, sehen, denken. Künstliche Intelligenz entwickelt sich in einem Tempo, das uns erschauern lässt – aber nicht etwa, weil wir Angst vor der Maschine haben, sondern weil wir ahnen und befürchten, wissen, dass wieder nur ein paar Wenige davon profitieren.
Und jetzt stellt euch vor, das Ganze nicht nur bis 80 oder 90 durchzustehen, sondern bis 120. Ein Marathon durch die Abgründe des Menschseins. Klingt nicht gerade nach einem Bonuslevel, oder?
Die Frage ist nicht, wie lange wir leben. Sondern wie wir leben.
Doch wenn ich eins nicht sein will, dann ein Misanthrop. Und wenn ich eins nicht verlieren will, dann die Hoffnung. Im Französischen heißt es so wunderbar: L´espoir Fait vivre. Die Hoffnung lässt uns leben. Denn so sehr die Welt gerade ins Taumeln geraten ist, so sehr wünsche ich mir doch, dass Langlebigkeit nicht zur Strafe wird, sondern zur Chance. Zur Freude. Zum Abenteuer.
Also drehen wir die Frage mal um: Was bräuchte es, damit es sich - wirklich - lohnt, 120 Jahre alt zu werden?
Eine Gesellschaft, die Weisheit ehrt statt nur Jugend feiert.
Alt zu werden ist kein Makel, sondern eine Leistung. Aber solange wir Alter nur als Defizit betrachten, statt als Schatz, wird Langlebigkeit zur Qual. Wir brauchen eine Gesellschaft, die Erfahrung wertschätzt, die das Leben als Wachstumsprozess begreift und nicht nur als Karriereleiter, die irgendwann im Nichts endet.
Eine Welt, die gerechter wird, nicht ungerechter.
Wo nicht wenige Milliarden horten, während andere nicht wissen, ob sie morgen die Miete zahlen können. Wo jeder Mensch eine Chance bekommt, nicht nur die, die ins richtige Elternhaus hineingeboren wurden. Eine Welt, in der Empathie keine Schwäche ist, sondern die höchste Form von Intelligenz.
Eine Umwelt, die nicht unter unseren Füßen kollabiert.
Denn was nützt es, 120 zu werden, wenn die Luft zum Atmen fehlt und das Wasser vergiftet ist? Wir brauchen einen Planeten, der uns auch in 100 Jahren noch trägt, versorgt, beheimatet.
Technologie, die dem Menschen dient, nicht ihn ausnutzt.
KI und Digitalisierung dürfen nicht Werkzeuge der Kontrolle und Manipulation sein, sondern müssen unser Leben tatsächlich bereichern. Wir brauchen Systeme, die uns unterstützen, statt uns auszubeuten.
Hoffnung, die realistisch bleibt.
Ja, die Welt ist kompliziert. Aber sie ist auch voller Möglichkeiten. Wir müssen uns weigern, dem Zynismus nachzugeben, denn Zynismus ist nichts anderes als ein Deckmantel für Hilflosigkeit. Hoffnung macht das Leben lebenswert. Und solange es Menschen gibt, die etwas verändern wollen, gibt es Hoffnung.
Longevity? Vielleicht doch.
Vielleicht lohnt es sich doch, 120 zu werden. Vielleicht nicht für die Welt, die wir jetzt haben, aber für die Welt, die wir erschaffen können. Es wird nicht leicht. Es wird kein Spaziergang. Aber wenn wir älter werden, dann doch bitte in einer Welt, die das Leben feiert, statt es nur noch zu ertragen und irgendwie auszuhalten, bis es endlich vorbei ist. Denn letztlich ist es nicht die Zeit, die zählt, sondern das, was wir mit ihr anfangen.
Über die Autorin:
Henriette Frädrich ist Keynote-Speakerin, Moderatorin und Storytelling-Profi. Mit Energie, Humor und Tiefgang nimmt sie ihre Zuhörer:innen mit auf eine Reise durch Themen, die bewegen: von Veränderung und Resilienz über Motivation, Innovation und künstliche Intelligenz bis hin zu Kommunikation und Leadership.
Ihre Mission? Komplexes einfach machen, Köpfe öffnen und Herzen berühren. Ob auf großen Bühnen oder in interaktiven Workshops – sie kombiniert fundiertes Wissen mit emotionalem Storytelling und schafft so nachhaltige Aha-Momente. Ihre Vorträge sind mitreißende Erlebnisse, die inspirieren und Mut machen, den nächsten Schritt zu gehen.