Warum wir Enden brauchen. Über die Magie von Anfängen. Und warum Unendlichkeit keine gute Idee ist.
Enden haben einen schlechten Ruf. Eine Beziehung ist zu Ende. Ein Jahr ist zu Ende. Ein Leben neigt sich dem Ende zu. Der Urlaub ist vorbei. Die Kindheit ist zu Ende. Die Dreißiger sind zu Ende. Ein Jahrzehnt geht zu Ende.
Ende ist immer Abschied. Ende ist immer vorbei. Ende ist oft „aus die Maus“ und „vorbei, bye, bye Junimond“. Enden machen traurig. Enden ziehen im Herzen. Enden tun weh. Das sind die Abschieds-Autsch-Enden.
Es gibt auch das Gegenteil, die Endlich-Enden. Enden, die herbei gesehnt werden. Endlich Frieden (war is over). Endlich Ruhe (wenn der Krach da draußen aufhört). Endlich Wochenende (wenn die erschöpfende Woche vorbei ist). Eine nicht endend wollende schlaflose Nacht, die sich im Morgengrauen endlich verkrümelt. Das Wort „endlich“, in dem ebenfalls das Ende versteckt ist und das impliziert, dass eine Wartezeit - endlich - vorbei ist. Das sind die Enden, die uns erlösen und erleichtern.
So erlösend und herbei gesehnt die einen Enden sind, so sehr kämpfen wir gegen die Abschieds-Enden an. Wir wollen an den Dingen, Beziehungen, Menschen und Themen, die nicht zu Ende gehen sollen, festhalten. Können nicht loslassen. Dabei brauchen wir Enden. Enden sind wichtig.
Bewusstes Beenden und Nach-Hause-bringen
Denn nur wo Enden sind, kann es Anfänge geben. Nur, wo etwas beendet ist, kann etwas Neues entstehen. Enden sind Chancen. Genau deshalb finde ich zum Beispiel Silvester wichtig. Die Party und das Buhei drumrum ist mir recht Schnuppe. Mir geht es vielmehr um das bewusste Beenden und „Nach Hause bringen“ eines gelebten und vollgepackten Jahres. Das Schließen dieses Buches, was ausgelesen und verratzt ist, Kaffeespuren und Flecken hat, vergilbte, zerrissene, vollgekritzelte, ausgeleierte Seiten. Herausgerissene Seiten. Eingefügte lose Zettel. Knicke. Kleckse. Ich freue mich auf das neue Buch. Leer. Die erste Seite aufschlagen, dran riechen. It´s so fresh and so clean. Es kann mit allem gefüllt werden. Und es wartet nur darauf. Ich mag die Energie von „irgendwie ins Ziel stolpern“ (altes Jahr), und nach einer kurzen Pause (diese herrlichen vor sich hin wabernden Wurmloch-Nichts-Tage zwischen den Jahren und die ersten Tage nach dem Jahreswechsel) dann wieder loszustapfen. Ganz leer. Und mit dieser Anfangsmagie.
Wir brauchen dieses Ende, und wir brauchen diesen Neuanfang. Jedes Jahr. Denn so können wir auch ganz bewusst viele Dinge, Themen und ja, auch Menschen, im alten Jahr lassen. Hinter uns lassen. Loslassen. Und wir können uns ganz bewusst entscheiden, wer und was alles ins neue Jahr mit darf. Die Taschen, Koffer, Rucksäcke neu packen. Oder ganz ohne Gepäck reisen. Nur Handgepäck mit an Board des neuen Jahres nehmen.
Man stelle sich mal vor, wir würden in einem endlosen Zeitkonstrukt leben. Es gäbe keine Jahre. Wir würden alles mit uns rumschleppen, wir würden immer dicker werden, wie eine riesige Schneekugel, an der immer mehr Schnee hängen bleibt und die irgendwann nicht mehr zu bewegen ist. Wir würden alles stapeln und horten. Wir würden erstarren. Beweglichkeit und Agilität braucht Veränderung. Veränderung braucht Enden und braucht Anfänge.
Es gibt die Kalenderblattweisheit aus dem, so glaube ich es aufgeschnappt zu haben, Buddhismus. Die mit der vollen und leeren Teetasse. Wir müssen unsere Cup of Tea erst mal leer machen, bevor wir neuen Tee eingießen können. Gießen wir einfach so drauf, läuft sie über. Genauso ist es mit all unserem persönlichen Kram, Gedanken, Gefühlen, Gedöns: Wir brauchen Ruhe und Zeit, um alles zu verarbeiten und die Tasse auch mal leer werden zu lassen. Sonst wäre alles Neue, alles, was wir neu hinzufügen wollen würden, die reinste Verschwendung. Wir könnten nichts mehr auffangen, nichts mehr halten. Denn es würde nur überlaufen. Begreifen wir also unser endliches Fassungsvermögen und arbeiten wir damit. Indem wir unsere Tassen immer wieder mal leer machen. Um sie dann neu zu füllen. Vielleicht ja auch mal eine Weile ganz leer stehen lassen. Oder sie auch mal mit Kakao füllen. Oder Himbeerbrause.
Erst die Endlichkeit macht alles - Dinge, Menschen, Beziehungen - so wertvoll
So verlockend so eine Unendlichkeit auf den ersten Blick erscheint, macht doch erst die Endlichkeit Dinge, Menschen und Beziehungen so wertvoll. Und so besonders. Would I want to live forever? Würde ich forever young sein wollen? Nein. Die Aussicht auf ein unendliches Leben würde mich erschlagen. Was, der Bumms hier wird nie ein Ende haben? Puh. Nö. Echt nicht. Es wäre ein Gefängnis. Lebenslang. Und wenn das Leben unendlich wäre, wäre das Gefängnis für immer. Alles hat seine Zeit. Und so sehr ich am Leben hänge, und so sehr ich lange und gesund und gut leben möchte (und das allen Menschen auf dieser Welt wünsche), so ist die Kostbarkeit dieses Lebens genau sein Ende. Und sein Ende sorgt für seine Kostbarkeit und seinen Wert.
Soll die Liebe für immer halten? Ja. Aber es ist gerade ihre Fragilität, die sie ausmacht. Es ist gerade die „Gefahr“, dass sie, aus welchen Gründen auch immer, vorbei sein kann, jederzeit, die dafür sorgt, dass wir uns Mühe geben, miteinander arbeiten, aneinander arbeiten und sie beschützen. Und sind es auch nicht immer wieder „die kleinen Enden“, die für schöne neue Anfänge und Wiederbegegnungen und Weiterentwicklungen innerhalb von Beziehungen sorgen? Wenn der Liebste auf Reise geht, das Vermissen, das kleine Ende, und die Vorfreude und das Weitermachen, wenn er wieder zurück ist. Auch ein kleiner Anfang.
Sängerin Pink, die zu ihrem 18. Hochzeitstag diesen wunderbaren Post veröffentlicht hat. Die seit jeher mit den Höhen, Tiefen, Schluchten, Abstürzen und Comebacks ihrer Ehe sehr offen umgeht und einiges davon mit der Welt teilt. Die sich immer wieder getrennt - und immer wieder zueinander zurück gefunden haben. Und sich gemeinsam weiterentwickelt haben. Eine Beziehung, in der es viele „dead ends“ gab, in der es aber immer wieder gelang, aus den Enden Neuanfänge zu machen.
Und vielleicht braucht genau das eine lebendige, echte Beziehung zwischen zwei perfekt unperfekten Menschenwesen. Statt unendlich happily ever after eine Reise in Etappen und Leveln. Anfänge, Irrungen und Wirrungen, Enden. Und doch irgendwie irgendwo Schlupflöcher finden und im neuen Level weitermachen. Hüpfen, springen, abstürzen. Wieder raus klettern. Und mit jeder Etappe, mit jedem neu erkämpften Level immer besser werden. Wenn man immer wieder scheitert, und es dennoch immer wieder versucht, muss man doch zwangsläufig immer besser darin werden. Oder?
Das ganze Leben ist doch so angelegt, die Natur, das Leben. Leben und Tod. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Rückzug und Angriff. Wachsen und Vergehen. Sterben und Werden. Alles ist Zyklus. Und jeder Zyklus braucht Anfänge und Enden.
Unendlichkeit sediert, legt lahm und macht dumm
Unendlichkeit würde uns sedieren und völlig lahm legen. Nichts hätte mehr einen Wert. Unendlichkeit macht egal, bräsig und dumm. Ein Buch hat ein Anfang und ein Ende. Eine Zeitung hat ein Anfang und ein Ende. Wohingegen, nur mal so zum Vergleich, dieses Internet und diese vermaledeite SocialMedia kein Ende hat. Und so scrollen wir endlos, endlos, endlos, es hört einfach nie auf, es geht immer weiter. Wir könnten Millionen von Jahre scrollen und googlen und klicken. Macht uns diese Endloslosigkeit nicht alle kirre? Ist es nicht genau das? Infinity-Scrolling bis zum get-no-more? Wie herrlich befreiend und wunderbar wäre es, würden Instagram oder TikTok nach 10 Minuten daddeln und scrollen vermelden: So, Finito. Zu Ende. Hier geht´s für heute nicht mehr weiter. Schluss. Alles konsumiert. Leer. Aus die Maus. (Übrigens wäre das mal eine tolle Feature-Erweiterung für die selbst gewählten Einstellungen. Nach xyz Minuten kommt die unüberwindbare Weiterscroll-Stoppschild-Mauer. Ich weiß, wäre nicht im Sinne der Plattformbetreiber:innen und deren Profiteur:innen. Aber es wäre im Sinne der Erhaltung der Menschheit und im Sinne der Bekämpfung der menschlichen Dummheit.)
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.
Und damit auch jedem Ende.
Dem Zauber des Anfangs und dem einhergehenden unvermeidlichen Ende widmete Hermann Hesse sein Gedicht „Stufen“. Und das ist wiederum: Zeitlos. Zeitlos gut. Zeitlos schön. Und seine Wirkung scheint genau eben kein Ende zu haben. „Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.“ - wenn das mal keine Zuversicht ist. Jedes Ende, jeder Anfang ist für uns, nie gegen uns. Denn mit jedem Ende und jedem Anfang wachsen wir. Der Weltgeist ist Gott, das Universum, die Liebe. Nennen wir es, wie wir es wollen. Oder wie wir es brauchen. Und diese Kraft und Macht weiß genau, was sie uns zumuten kann und zumuten muss. Und dass es die Enden und Anfänge sind, die uns lebendig machen.
Stufen
Hermann Hesse
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
All graphics by AI, Midjourney. The prompt was: Create an abstract image of “beginnings and endings”, “farewell and goodbye”, “circle of life”, “cycles”, “closing a book”.