Henriette Frädrich

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Ruhe, bitte! – Ist „Noise Pollution“ die nächste Gesundheitskrise?

In der Hektik des modernen Lebens werden wir oft von einer unsichtbaren Gefahr umgeben, die schleichend unsere Gesundheit bedroht: Lärmbelastung. Und Lärmbelästigung. Es ist nicht nur der ohrenbetäubende Lärm von Baustellen oder lauten Nachbarn, der uns plagt, sondern auch der konstante, oft unterschätzte Hintergrundlärm, der sich in unserer urbanen Welt breit macht. Lärm hat viele Facetten und kann auf verschiedene Weisen unsere Gesundheit beeinträchtigen.

Wenn ich mit dem Zug reise, dann nur im Ruhe-Abteil. Ich reise grundsätzlich nie ohne Oropax und Noise-Cancelling-Kopfhörer. Ich schotte mich von der Welt ab, wo ich es nur kann. Nicht, weil ich die Welt nicht mag. Sondern weil sie mir zu viel und viel zu laut geworden ist. Ich ertrage es einfach nicht (mehr). Die Dauerbeschallung ÜBERALL macht mich fertig. Energetisch, körperlich, psychisch, mental. Ich giere nach Ruhe. Stille ist mein safe space.

Lärmschutz kennen wir als große Mauern an Autobahnen oder vielbefahrenen Bundesstraßen, die durch Wohngebiete gehen. Hier ist Lärmschutz irgendwie logisch und anerkannt.

Aber überall im unserem restlichen Leben sind wir Krach, Lärm und Dauerbeschallung gnadenlos ausgeliefert. Verkehr, Baustellen, permanente Lautsprecherdurchsagen und Sicherheitshinweise an Flughäfen und Bahnhöfen.

Dauerkrach ohne Unterlass ist übrigens auch eine Foltermethode.


Ich stehe in einem Klamottenladen und nehme wahr, dass ich total aggressiv bin und mich gestresst fühle. Ich könnte heulen. Warum? Es ist die Musik. Die verdammt laute Scheiß-Musik. Nein, mich animiert Musik in Geschäften nicht zum Kaufen. (Und Halleluja, jetzt beginnt die Weihnachtszeit und in allen Läden bimmelt und dudelt es jetzt weihnachtlich bis Wham(!) und Maria Carey nicht mehr können.)

Mich animiert Musik in Geschäften zum Flüchten. Und ja, ich könnte mir durchaus vorstellen, mal so richtig auszurasten und zu randalieren. Das Rewe-Radio in Dauerbeschallung, inklusive der unfassbar nervigen Werbespots, es macht mich aggressiv. Und ja, ich bin schon aus lauter Lärm-Verzweiflung mit Oropax in den Ohren zum Einkaufen gegangen. Wie ertragen die Menschen das, die dort arbeiten den ganzen Tag?

Alles auch mit Gründe, warum ich so gut wie nicht mehr shoppen gehe, sondern alles online bestelle und mir so gut wie alles liefern lasse. Auch den Wochenlebensmitteleinkauf. It´s just an act of selfcare. Dauerbeschallung macht mich fahrig, lenkt mich ab, ich kann mich nicht konzentrieren. Dauerbeschallung bringt mich völlig durcheinander. Sie löst Widerstand in mir aus. Ja, irgendwie auch eine Art von Schmerzen. Dauerbeschallung stresst mich. Unendlich.

Dauerkrach ohne Unterlass ist übrigens auch eine Foltermethode.

Wann ist die Welt so unaushaltbar laut geworden?

In Taxis bitte ich die Fahrer:innen, das Radio aus zu stellen. Oder es zumindest nur ganz leise laufen zu lassen. Aus Cafés und Restaurants, in denen es extrem laut ist, und in denen on top auch noch laute Musik als Hintergrundbeschallung läuft, flüchte ich. Sofort. Wie soll man da in Ruhe einen Café trinken, sich unterhalten oder seinen eigenen Gedanken nachhängen? Ich weiß, ich bin nicht die einzige, der es so geht. Und ich frage deshalb: Liebe Fitnesssstudio-Betreiber:innen, liebe Ladenbesitzer:innen, liebe Café- und Restaurantbetreiber:innen, könntet ihr bitte einfach mal ausschalten? Oder alles ein bißchen lautstärkemäßig nach unten regeln?

Ich fühle mich oft wie das Kind im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, das empört ruft: Aber er ist doch nackt! Merkt das denn niemand sonst? Sind alle anderen etwa entspannt? Macht denen das gar nichts, dieser Krach, dieser Lärm, überall Musik?

Wann ist die Welt so unaushaltbar laut geworden? Und warum nehmen wir das als so normal hin?

Ähnlich geht es mir übrigens mit „Duftkonzepten“ in Läden. Neuerdings haben viele Stores eigene „Signature-Düfte“, die zum Branding dazu gehören. Jede Marke braucht jetzt auch einen Duft als USP und Wiedererkennungswert. Und die sind oft … extrem … undiskret. Intensiv. Und machen mich genauso aggressiv. Und dann betrete ich so einen Laden und bekomme auf allen Sinnesebenen erst mal voll eine auf die Zwölf. Laute Signature-Music auf die Ohren. Penetranter Signature-Duft in die Nase. Und die Augen, auch völlig überfordert mit dem überbordendem Angebot. Und ich frage mich: Reichen Augen nicht? Warum penetriert ihr auch noch ungefragt Ohren und Nasen? Ich flüchte, noch bevor die Verkäuferin fragen kann, ob sie mir helfen kann.

Natürlich höre ich Musik. Ich liebe Musik. Aber eben nur dann, wann und was und wie ich es will. Ich schreibe diesen Text hier, sitze an meinem Schreibtisch, alles ist ruhig, und dennoch trage ich zusätzlich Noise-Cancelling-Kopfhörer. Ich brauche die totale Abschottung, um in meinen Kopf zu kriechen und bei mir zu sein, meine Gedanken zu sortieren und zu Papier zu bringen.

Wir unterschätzen die Macht und Kraft von Stille und Ruhe

Ich bin überzeugt davon, dass wir alle die Macht und Kraft von Stille und Ruhe völlig unterschätzen. Ebenso wie die Gefahren, die von Dauerbeschallung überall ausgehen.

Ich bin letztes Jahr vom trubeligen Belgischen Viertel in Köln (Mitten in der Innenstadt. „Hipster-Viertel“) ins beschaulich ruhige Köln-Müngersdorf gezogen. Eine der „Nebenwirkungen“ nach dem Umzug war, dass es mir auf einmal „unerklärlich gut“ ging. Ich war viel ruhiger, entspannter. Und ich realisierte: Ja klar, hier ist es … ruhig. Kein Big-City-Life mit viel zu viel Verkehr, viel zu vielen viel zu gestressten und viel zu aggressiven Menschen, viel zu vielen Big-City-Lights. Sondern … Stadtrandidylle. Kaum Menschen, wenig Verkehr, alles grün drumrum. Und: Stille. Ruhe. Ich realisiere jetzt erst, nachdem ich aus der Innenstadt raus bist, wie sehr mich die Stadt fertig gemacht hat.

Hat das auch mit dem Alter zu tun? Ehrlich gesagt glaube ich das nicht. Wenn ich zurück blicke, reflektiere ich, dass ich ein Jahrzehnt (mal abgesehen von der sowieso schon stressigen „Rush-Hour des Lebens“ zwischen 30 und 40 mit Karriere, Kind und Familie wuppen) dauergestresst, dauerangespannt und dauerpassivaggressiv war. Und ich bin überzeugt, die Innenstadt als solches, mit all ihrem zuviel, und vor allem dem Krach, hat mehr Anteil daran, als ich es bisher ahnen und reflektieren konnte.

Lärmbelastung oder auch „noise pollution“ ist die nächste öffentliche Gesundheitskrise

Es ist höchste Zeit, diese stille Bedrohung ernst zu nehmen und Lärmbelastung als die nächste öffentliche Gesundheitskrise anzuerkennen.

Dass wir das Gefühl haben, dass gerade in Städten die Menschen immer aggressiver miteinander umgehen, täuscht nicht. Ich bin überzeugt davon, wäre es stiller, ruhiger, leiser, würde der Stress, die Anspannung, die Nervosität, die Aggressivität augenblicklich rapide sinken.

Lärm, obwohl oft als lästig, wird bisher nicht wirklich als ernstzunehmende Gefahr betrachtet. Doch zahlreiche Studien haben gezeigt, dass chronische Lärmbelastung schwerwiegende Auswirkungen auf unsere körperliche und mentale Gesundheit hat. Die WHO schätzt, dass weltweit rund eine Milliarde Menschen von schädlicher Lärmbelastung betroffen sind, und die Zahlen steigen stetig.

Eine der offensichtlichsten Auswirkungen von Lärm ist der Einfluss auf den Schlaf. Eine ruhige Umgebung ist entscheidend für einen erholsamen Schlaf, der wiederum für unsere Gesundheit von entscheidender Bedeutung ist. Chronischer Schlafmangel aufgrund von Lärmbelastung kann zu einer Vielzahl von gesundheitlichen Problemen führen, darunter Herzkrankheiten, Diabetes und sogar psychische Störungen.

Doch nicht nur der Schlaf leidet unter der ständigen Geräuschkulisse. Lärm hat auch nachgewiesene Auswirkungen auf den Stresspegel. Unser Körper reagiert auf Lärm mit der Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol, was langfristig zu chronischem Stress führen kann. Dies wiederum erhöht das Risiko für verschiedene Krankheiten, von Bluthochdruck bis hin zu depressiven Erkrankungen. Ein empathisches Miteinander, was wir mehr denn je in unserer Welt brauchen, ist unter diesen Umständen kaum möglich.

Besonders besorgniserregend ist die Auswirkung von Lärmbelastung auf die kognitive Funktion. Studien haben gezeigt, dass anhaltender Lärm die kognitive Leistungsfähigkeit beeinträchtigen kann, insbesondere bei Kindern. Lärm in Schulen kann die Lernfähigkeit beeinträchtigen und langfristig zu Bildungsungleichheiten beitragen. Kein Wunder also, dass Schüler:innen in riesigen Klassen mit bis zu 30 Kindern sich nie wirklich konzentrieren können. Es ist einfach … zu laut. Aber eingeredet wird ihnen dann, sie hätten ADHS oder sonst irgendeine andere „Störung“. Dabei liegt die Störung im Außen. Es ist zu viel. Und es ist zu laut.

Die Ursachen für Lärmbelastung sind vielfältig und reichen von Verkehrslärm über Industriegeräusche bis hin zu lauten Freizeitaktivitäten. Die stetige Zunahme von urbaner Verdichtung und technologischem Fortschritt verschärft das Problem weiter. Es ist an der Zeit, dass Regierungen, Stadtplaner:innen und die Gesellschaft als Ganzes Lärmbelastung ernsthaft in Betracht ziehen und entsprechende Maßnahmen ergreifen.

Die Bewältigung der Lärmbelastung erfordert eine multidisziplinäre und komplexe Herangehensweise. Dies beinhaltet die Implementierung strengerer Lärmschutzgesetze, die Förderung von leiseren Verkehrsmitteln und die Integration von Schallschutzmaßnahmen in städtische Planung und Architektur. Es erfordert auch eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Gefahren von Lärmbelastung und die Förderung eines bewussteren Umgangs mit Lärmquellen im Alltag.

Die stille Bedrohung von Lärmbelastung mag unsichtbar sein, aber ihre Auswirkungen sind real und weitreichend. Wenn wir nicht handeln, könnte die nächste öffentliche Gesundheitskrise nicht in einem Mikroorganismus oder einem Virus liegen, sondern in dem allgegenwärtigen Rauschen, das unsere moderne Welt durchdringt. Es ist an der Zeit, die Ohren zu spitzen und die leise Epidemie von Lärmbelastung zu bekämpfen, bevor sie sich weiter in unser tägliches Leben einschleicht.

Empfehlen möchte ich das Buch „Stille“ von Erling Kagge. Und gerne mal nach „noise pollution“ googlen.

Why Noise Pollution Is More Dangerous Than We Think | The Backstory | The New Yorker

Why noise is bad for your health -- and what you can do about it | Mathias Basner


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