Fast jeden Tag komme ich während meiner Hunderunden am Gedenkort Deportationslager Köln-Müngersdorf vorbei. Fast jeden Tag gehe ich daran vorbei. Es ist halt da, es ist massiv, und den Gedenkstein habe ich bisher nur ein einziges Mal gelesen. Beim Lesen damals ging mir ein „krass“ durch den Kopf, und ich ging dann einfach weiter, und mit den Gedanken schon wieder längst bei allen kleinen und großen Problemchen meines beschaulichen, gemütlichen Lebens.
Ich glaube, es ist mein Unterbewusstsein, das die dort aufgeführten Informationen einfach nicht tiefer in mich rein sickern lässt und mich davor abschottet, weil das, was dort - und wovon wir alle wissen und im Geschichtsunterricht lernen - geschildert wird, so entsetzlich unfassbar und unvorstellbar ist, dass mein Herz zerbersten würde vor Schmerz und Scham und Fassungslosigkeit.
Und heute stehe ich wieder davor. Und ich lese das. Und ich frage mich, einmal mehr und dringlicher denn je: Wie konnten Menschen so etwas tun? Wie konnte so etwas vor nicht mal 100 Jahren in meiner Stadt, die heute vor allem für ihre Offenheit und für ihr diverses Miteinander bekannt ist, passieren und zugelassen werden? Wieso konnte dieser Horror nicht verhindert werden? Wie kommen Menschen überhaupt auf die Idee, einander so entsetzlich perfide und pervers systematisch und strategisch zu vernichten? Ich möchte schreien.
Und ich schaue mich um, und es ist friedlich und schön und Sonne und Schnee. Ich kann hier lang spazieren, meine kleine Hundedame schnüffelt sich glückseelig durch das weisse kalte Glück. Ich darf hier frei lang spazieren, darf ein freies Leben führen, in Frieden. Und ich kann in meiner Insta-Story lustige Winterwonderland-Bilder von unserem Walk posten, happy-smiling Selfies inklusive.
Aber ich kann all das nur, solange ich in einer Freiheit und Demokratie und Frieden lebe. In einer freien Gesellschaft mit freien Menschen, die sich gegenseitig Respekt und Empathie entgegen bringen - und die alle in Frieden, Freiheit und Harmonie ihr Leben leben wollen. Freie Menschen, die alle ihre Probleme und Herausforderungen haben, von denen niemand perfekt ist - von einer perfekten Gesellschaft ganz zu schweigen. Aber die auf Werten beruht. Werten wie Freiheit, Respekt, Miteinander, Solidarität, Frieden, Demokratie. Menschen, die Konflikte haben (weil Konflikte menschlich und wichtig sind) und in der Lage sind, diese - vernünftig - zu lösen. Ohne sich gegenseitig zu zerstören, ohne Krieg, ohne sich systematisch zu vernichten und voneinander zu entzweien.
Den Luxus von Eskapismus, Schweigen und Abwinken können wir uns nicht mehr leisten
„Häh, warum schreibst du auf einmal etwas zum Thema „Faschismus“?“, wurde ich vor kurzem auf meinen letzten Blog-Artikel und den dazugehörigen Instagram-Post angesprochen. Beschäftige ich mich doch normalerweise eher nicht mit Politik und „solchen“ Themen. Aber die Zeiten, dass wir uns damit nicht zu beschäftigen brauchen, sind vorbei. Uns nicht damit beschäftigen zu müssen, ist purer Luxus. Aber diesen Luxus haben wir nicht mehr. Dieser Luxus ist massiv bedroht. Bedroht vor allem von dir, von mir, von euch, von uns. Ja, genau, von uns! Wir, die ach so klugen, gebildeten, aufgeklärten, reflektierten, mittelalten Mittelschicht-Hipster. Dieser Luxus ist bedroht ist von unserer Naivität und unserem Glauben, es wird ja wohl niemals wieder zu so etwas kommen. Bedroht von unserem Genervtsein von noch so einem mahnenden Zeitzeugen. Bedroht von unserem Schweigen. Bedroht von unserem Wegsehen. Bedroht von unserem Eskapismus und unseren Fluchten. Bedroht von unserer Ohnmacht, unserer Hoffnungslosigkeit und unserem Frust. Bedroht von unseren Ablenkungen unseres individuellen Lebens mit unserem anstrengenden Alltag zwischen Kind, Kegel und Karriere, zwischen Money, Klimakrise, Beziehungstheater, Midlifecrisis und Mental-Load.
Aber all das, gerade letzteres, unser herrliches kleines individuelles Lebenschaos mit all unseren Luxus-Problemen und seinen Struggles ist vorbei, wenn wir weiter müde abwinken und schweigen. Wenn die Szenarien aus dem „Geheimplan gegen Deutschland“ sich langsam in unsere Welt einschleichen. Und wir nichts dagegen unternehmen und nichts unternommen haben.
Sind wir die Frösche im heißen Wasser?
Wenn uns das passiert, was Fröschen in heißem Wasser - angeblich - passiert: Es gibt diese Geschichte vom Frosch im heißen Wasser. Würde man einen Frosch in heißes Wasser schmeißen, würde er sofort wieder vor Schreck und Autsch heraus springen. Würde man den Frosch allerdings in kaltes Wasser setzen und das Wasser dann langsam erhitzen bis es unerträglich und gefährlich heiß wird, so würde der Frosch im Wasser hocken bleiben - und, je heißer das Wasser, sterben. Ob die Geschichte stimmt, weiß ich nicht. Ich habe sie nicht geprüft. Es ist eine Geschichte aus dem Internet, die zu verschiedenen Thematiken als Metapher heran gezogen wird.
Dennoch benutze ich die Metapher, ob sie nun wahr ist oder nicht. Denn der Grundgedanke dahinter illustriert ziemlich gut, in welcher - gefährlich heißen – Patsche wir gerade sitzen. Das Fazit der Frosch-Story: Springt er in kochend heißes Wasser, schmerzt es, er registriert die Gefahr und hüpft sofort wieder heraus. Sitzt er hingegen in kaltem Wasser, welches langsam erhitzt wird, scheint er sich Stück für Stück an die erhöhte Temperatur zu gewöhnen und merkt gar nicht, dass er bei lebendigem Leibe gekocht wird. Bedeutet: Man kann sich an alles gewöhnen und es sich darin gemütlich machen. Auch wenn es das eigene Leben bedroht. Nichts anderes passiert doch gerade bei. Wir bauen einen Mist nach dem anderen – unter anderem Rechtsruck, Klimawandel, Technik-Digitalisierungs-Hörigkeit, Wachstumsverherrlichung, Ideologie-Grabenkämpfe, Hate und Dummheit im Internet – und scheinen uns in der Mehrheit genau daran zu gewöhnen. Das, was Gewohnheit ist, das, was uns tagtäglich umgibt und vorgelebt wird, begreifen wir irgendwann nicht mehr als Gefahr. Im Gegenteil, die größte Gefahr wäre für uns, das Gewohnte zu verlassen. Wir gewöhnen ans ziemlich schnell auch an hässliche Dinge, die wir schulterzuckend zur Kenntnis nehmen. Ja mei, is halt so. (Dazu passend auch dieser Artikel: Shifting Baselines und Frösche im heißen Wasser)
Wir müssen uns unsere Fassungslosigkeit, unsere Emotionalität, unseren Schmerz, die Scham, die Wut, das Entsetzen bewahren.
Gewohnheit lähmt uns. Lässt uns abstumpfen. Wir müssen uns unsere Fassungslosigkeit, unsere Emotionalität, unseren Schmerz, die Scham, die Wut, das Entsetzen bewahren. Ihm Ausdruck verleihen. Mit aller Macht und Kraft. Und genau das muss unsere Gewohnheit sein. Es muss zu unserer Gewohnheit werden, dass wir „NÖ“ sagen, klar, laut und deutlich. Ein NÖ im Kollektiv, das verbindet und uns gegenseitig unsere Unsicherheiten und Ängste nimmt, uns gegenseitig stark macht. Ein NÖ, wie es z.B. Köln in seiner Demo gegen Rechts mit über 30.000 Menschen vorgemacht hat. Die schweigende Mehrheit, das sind wir, und wir müssen laut werden, laut sein und ja, laut bleiben. Darüber hat auch die Süddeutsche geschrieben und es klar und deutlich auf den Punkt gebracht. Dort enthalten auch ein Zitat von Erich Kästner:
Ich bin normalerweise sehr vorsichtig und zurückhaltend mit Ausdrücken wie „bürgerliche Pflicht“. Und ich war und bin gerne mal die Erste, die sich über gesellschatliche und bürgerliche Pflichten aufregt, so nach dem Motto „Was muss ich? `N Scheiß muss ich! Lasst mich doch alle in Ruhe mit eurem Mist, ich geh buddeln.“ Ja, das ist Eskapismus at it´s best. Und diese Haltung muss man sich erst mal leisten können. Aber diese Haltung können wir uns derzeit nicht mehr leisten - und in the end werden wir uns diese Haltung wohl auch nie leisten können dürfen. Und es ist in der Tat unsere bürgerliche Pflicht, weiter und permanent NÖ zu sagen. So oft und so laut, dass dieses NÖ unsere Normalität ist. Dass die schweigende Mehrheit die laute, aktive Mehrheit wird, an der sich alle orientieren können. Denn genau danach suchen wir doch alle: Nach Orientierung.
Jede:r von uns kann auf seine und ihre ganz persönliche individuelle Art und Weise NÖ sagen. Sichtbar und unsichtbar. Online und offline. Im eigenen kleinen Mikrokosmos oder auf größeren (Medien- oder SocialMedia-)Plattformen. Bei Demos. Zuhause. Am Stammtisch. Auf Arbeit. Überall. Jede:r, der/die mit seinem oder ihrem NÖ sicht- und hörbar ist, ermutigt wiederum andere, ebenfalls NÖ zu sagen. Und dann machen WIR aus UNSEREM Schneeball eine Lawine. Aber eine gute.
P.S. Apropos Schnee. Ich geh jetzt mal raus ins Winterwonderland. Und genieße es. Und bin dankbar dafür.
P.P.S. Und eigentlich hatte ich heute Zeit eingeplant, um einen Vortrag vorzubereiten, den ich bei einem Event eines großen Kosmetikunternehmens kommende Woche halten darf. Aber diesen wunderbaren Job kann ich eben nur ausführen, solche Events können nur veranstaltet werden, Kosmetikprodukte können nur verkauft werden, wir können uns nur mit Beauty, Health und Wohlbefinden, mit unseren Finanzen, mit unseren Karrieren beschäftigen, wenn wir in einer Freiheit, Frieden und Demokratie leben. Deshalb ist das hier wichtiger und dringender. So viel wichtiger und dringender als alles andere. Denn unser „alles andere“ ist gerade bedroht und in Gefahr.