Henriette Frädrich

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Die Magie von Analog: Digital befriedigt nicht

Wir müssen die analoge Welt retten, erhalten, bewahren, schützen. Wir brauchen nicht nur Umweltschutz und Klimaschutz, sondern auch Analog-Welt-Schutz. Brauchen wir vielleicht sogar bald ein Analog-Ministerium? Eine Analog-Ministerin? Denn: Was macht es eigentlich mit dem Fünf-Sinne-Wesen Mensch, wenn sich sein Alltag mittlerweile fast nur noch vor zwei dimensionalen Bildschirmen abspielt? Fehlt uns da nicht etwas? Geht uns da nicht etwas verloren? Brauchen wir Analog-Pioniere? Und warum hat „Freude am Fahren“ nichts mit dem Einbau von noch mehr bunten Touchscreens zu tun?


Jaja, die Digitalisierung, die künstliche Intelligenz und so, die haben unsere komplette Realität und Normalität schon längst gekapert, und auch ich tippe diesen Artikel nicht auf einer klapprigen Schreibmaschine sondern auf einem höchst digitalen Gerät namens MacBook und recherchiere mir alles mögliche mit Hilfe von Google und ChatGPT zusammen.

Dennoch bin ich nach dem Lesen eines Artikels über den Analog-Pionier Florian Kaps in der brand eins 08/2024 überzeugt: Save the Whales. Save our Analoge Welt. Save our Souls. Ja, S.O.S - so dringlich ist die Lage, denn unsere Seele, also das, was uns als Menschen ausmacht, braucht das Analoge. Digital ist praktisch, keine Frage, und ich werde auch nicht gegen das Digitale wettern. Solange das Digitale das Analoge nicht komplett verdrängt und vergessen macht. Denn analoge Erlebnisse und Erfahrungen sind nicht nur nostalgisch, sie sind essenziell für das Menschsein.


Digital befriedigt nicht.

Digital befriedigt nicht. Bitte gern mal sacken lassen. Und aus allen Perspektiven betrachten. Ein paar Beispiele (Online-Porno lasse ich einfach mal aus, because, well, it´s obvious, isn´t it …?) Doomscrolling und Endlosscrolling machen uns irre und lätschig in der Birne. Social Media hinterlässt nie ein ein gutes, beglücktes, erfülltes Gefühl nach Nutzung und Endlosberieselung.

ChatGPT ist ein geniales Tool als Arbeits-Sparrings-Partner. Ich nutze es regelmäßig und gern für alle möglichen Aufgaben und ToDo´s und „er“ war mir schon oft eine immense Hilfe. Verlockend auch jedes Mal die Möglichkeit, ihn meine Texte ganz und gar komplett schreiben zu lassen. Wie z.B. diesen hier. Aber jedes Mal, wenn ich dieser Versuchung erliege, ich einen Chattie-Text erstellt und kaum verändert habe, habe ich danach ein ziemlich blödes Gefühl in mir. Nein, kein schlechtes Gewissen, wegen vermeintlichem „Cheating“ oder so. Sondern so ein undefinierbares „unbefriedigtes Gefühl“.

Ja, ich habe gecheated, aber vor allem mich selbst betrogen. Denn ich habe mich selbst um ein ganz essentielles Ding gebracht: Um das wahre und echte und authentische Gefühl, etwas kreiert und geschaffen und ja, auch echt und ehrlich und wahrhaft und authentisch geschafft zu haben. Und um noch etwas bringe ich mich dann: Um meinen Ausdruck. Denn für mich ist das Schreiben von Texten „Kunst“ und eine Form des Ausdrucks. Eine Form meines Ausdrucks. Eine Form, mich der Welt und ihren Themen zu nähern, sie zu betrachten, einzudringen, durchzudringen, meine Gedanken auf Wanderschaft gehen zu lassen, aus vorhandenen Ideen neue entwickeln. Ich stülpe mich ein bißchen nach außen.

Ohne diesen Ausdruck bleibe ich in mir selbst gefangen mit all meinen Gedanken, Ideen und all dem Krach und Lärm in mir selbst drin. All das muss mal raus, in verschiedenen Formen. Ja, das ist Arbeit, mentale und emotionale Arbeit. Ja, das braucht Zeit. Viel mehr Zeit als Chattie mit ein paar Prompts zu füttern, und das Ergebnis dann einfach achselzuckend und mit dem Motto „passt schon“ zu verwenden. Aber nur durch DO-IT-YOURSELF komme ich in einen kreativen Flow. Und der berühmte Flow lässt einen alles um sich herum vergessen und sorgt für ein ziemlich solides und warmes Glücksgefühl. Erst, wenn ich selbst einen Text geschrieben habe, bin ich „befriedigt“. Ich habe mich ausgedrückt. Ich habe etwas geschaffen. Ich habe einen Teil von mir in die Welt gestülpt. Und auf dem Weg dahin, bei und in diesem Prozess, war und bin ich ganz bei mir selbst. Flow kann man nicht künstlich herstellen, und schon gar nicht digitalisieren. Flow muss man sich selbst machen.

Wenn ChatGPT mir das abnimmt, und sei er auch noch so gut trainiert von mir und sei ich auch noch so zufrieden und positiv überrascht mit dem, was er aus meinen Prompts so mixt und zaubert, ja, ich freue mich einen kurzen Moment darüber.

Aber dann sackt alles in mir zusammen wie ein erkaltetes Käsesoufflé. Und ich bin immer noch in mir selbst gefangen. Und ich habe mich selbst meiner Sprache und meines Ausdrucks beraubt. Und damit die Chance auf Flow und Glücksgefühl.Mein digitaler Ausdruck ist lediglich ein analog gefakter Ausdruck. Und Fakes und Faken befriedigen bekanntlich nie.

Applaus, Feedback, Wertschätzung, Anerkennung, “Likes”, Kommentare hinterher, ja, sie sind ein Nice-to-Have. Darum geht es gar nicht. Denn die echte Befriedigung, das echte kleine große Glücksgefühl, das echte Bei-Mir-Sein, kommt nur durch den Flow, durch das Selber-Machen und durch das Versinken im Machen an sich. It´s all about the Making and Doing and Umsetzing. Und sich darin zu verlieren. Das ist das Glück. Das ist die Erfüllung.

Ich glaube, das gilt für jede Form von Kunst. Und ich glaube auch, wir Menschen brauchen alle unseren ganz individuellen Ausdruck. Wir brauchen alle unsere Möglichkeiten, uns auszudrücken. In dem wir etwas analoges (er)schaffen und kreieren. Durch Tanz. Durch Musik. Durch Sprache. Durch Sport. Durch Ideen. Durch Gesang. Durch was auch immer.

Die große Kunst wird in Zukunft also vielleicht darin liegen, analog und digital, beides miteinander zu kombinieren. Aber die Ausschließlichkeit des Digitalen, das sehe ich nicht. Alles was echt ist, Natur, Tiere, Menschen, Blumen, Bäume, Gefühle, Liebe, kann nicht digitalisiert werden.


Wir brauchen Analog-Pionier:innen

Vielleicht brauchen wir genau deshalb Analog-Pioniere wie Florian Kaps. Ja, er ist ein „Freak“, er hat Polaroid vor dem Untergang gerettet und wieder cool gemacht. Er hat eine Vinyl-Live-Aufnahme-Schnitt-Methode entwickelt, Billie Eilish und andere weltberühmte Musik-Super-Stars arbeiten mit ihm zusammen und nutzen die neue, alte Platten-Technik. Digital ist halt vielleicht irgendwann doch irgendwie öde. Oder einfach zu viel. Oder zu glatt. Oder zu vorhersehbar (es gibt eine wirklich richtig tolle Doku über Florian Kaps: An impossible project).

Und so schreibt die brand eins: „Manchmal buchen ihn Konzerne wie BMW, Allianz oder Facebook – um wieder mehr Analoges in ihre durchdigitalisierten Firmen zu bringen. Im Auftrag des BMW-Designchefs Adrian van Hooydonk stattete Kaps einen Wagen mit einer handgefertigten Mini-Wunderkammer inklusive Kassettengerät, Handschuhen, Landkarte und Plattenspieler aus. `Ich habe ihn zu überzeugen versucht, dass die Zukunft von "Freude am Fahren" nicht in noch mehr Touchscreens liegen kann´. Umgesetzt wurde keine seiner Ideen.“

Wenn alles nur noch digital ist, ist das der point of no return? Machen hochdigitalisierte, aalglatte, streamlinige und getouchscreent-bis-zum Get-No-More-Autos wirklich mehr Spaß als die guten alten Knatterkisten mit echten Zeiger-Anzeigen, Hebeln und Knöpfen? Manchmal vermisse und will ich einfach nur ein paar echte Knöppe im Auto. Und einen richtigen, echten Schlüssel. Keine App, keine Keycard. Ja, please! Give me a key, baby. Ich meine, es heißt doch auch nicht, hier ist die Keycard zu meinem Herzen, oder?

Pionier-Dasein verbinden wir ja eigentlich immer mit dem rigorosen Marsch rein ins komplett Neue und Unbekannte. Pioniere sind die mit dem Motto „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“. Links, zwo, drei, vier Marsch, hallo Digitalisierung, hallo Metaverse, Hallo Virtual Reality, Hallöchen Künstliche Intelligenz.

Aber vielleicht brauchen wir auch „Rückwärts-Pioniere“. Wir brauchen Innovation und Exnovation. Und das ist sogar ökonomisch gar nicht mal so unsmart. Die totgesagte Plattenindustrie verkaufte allein in Deutschland 4,3 Millionen analoge Tonträger. Schweizer Uhrmacher verkauften letztes Jahr 6 Millionen analoge Uhren. Polaroid verkauft nach wie vor Kameras und die dazugehörigen immer noch sehr teuren Filme. Alles Produkte, die im digitalen Zeitalter eigentlich wirklich niemand mehr braucht.


Aber was ist eigentlich „analog“?

"Analog" ist wie eine Vase mit einem Blumenstrauß darin, die du in die Hand nehmen kannst. Wir können die Vase fühlen, die Blumen riechen. Wenn wir "analog" sagen, meinen wir etwas, das echt und greifbar ist. Im wahrsten Sinne des Wortes greifbar.

„Analog“ kommt aus dem Griechischen. Es bedeutet so viel wie „ähnlich“ oder „entsprechend“. Es sagt, dass etwas wie etwas anderes ist. Analog bewegt sich wirklich. Digital erzeugt nur eine Illusion von Bewegung. Ein Beispiel für analoge Technologie ist die analoge Uhr, die sich, bzw. der Zeiger, kontinuierlich bewegt, im Gegensatz zu einer digitalen Uhr, die die Zeit in festen Einheiten anzeigt.

Zu den analogen Geräten zählen Schallplattenspieler, alte Radios, analoge Uhren und Thermometer mit Quecksilber. Digitale Geräte sind unter anderem Computer, Smartphones, digitale Kameras und Streaming-Dienste.

Kleiner Exkurs: Analog vs. Digital


Repräsentation der Daten

Sämtliche Daten werden in analogen und digitalen Geräten unterschiedlich erzeugt und wieder gegeben: Analoge Geräte nutzen physikalische (also somehow echte …) Signale, die kontinuierlich fließen (da ist Bewegung drin). Ein klassisches Beispiel dafür ist der Schallplattenspieler: Hier erzeugt die Nadel, die über die Rillen einer Vinylplatte gleitet, Klang durch physikalische Vibrationen. Diese Vibrationen sind analog, was bedeutet, dass sie in einem ununterbrochenen Spektrum variieren.

Im Gegensatz dazu verwenden digitale Geräte sogenannte diskrete Werte, um Informationen darzustellen. Sie wandeln analoge Signale in digitale Daten um, indem sie sie in binären Code (0 und 1) konvertieren. So wird der Klang in einem digitalen Musikplayer in digitale Daten umgewandelt, die gespeichert und verarbeitet werden können. Heißt also auch, für alles Digitale brauchen wir auch erst einmal etwas analoges.

Umwandlung von Signalen

Bei analogen Geräten gibt es keine Umwandlung; sie verarbeiten Informationen direkt in physikalischer Form. Heißt also auch, flapsig interpretiert und ausgedrückt: Analoge Signale gehen sofort „ins Blut“, in unser System, ohne Umwege, ohne Filter, ohne Manipulation. So ist es also auch kein Wunder, dass unsere Spotify-Playlisten mit den Millionen Stunden unserer Lieblingsmusik zweifelsohne ganz nice und really very praktisch sind, aber wirkliche Gänsehaut und Gefühlsflashs jeglicher Couleur bekommen wir doch erst bei einem analogen Live-Konzert.

Digitale Geräte hingegen setzen Analog-Digital-Wandler (ADCs) ein, um analoge Signale in digitale Formate zu konvertieren. Umgekehrt nutzen sie Digital-Analog-Wandler (DACs), um digitale Daten wieder in analoge Signale umzuwandeln, sodass wir sie hören oder sehen können.


Übertragung von Informationen

Analoge Geräte übertragen Informationen häufig über analoge Signale, wie es bei der Übertragung von Radiofrequenzen der Fall ist oder durch Kabel, die kontinuierliche Spannungen leiten.

Digitale Geräte hingegen übertragen Daten in Paketen über Netzwerke, einschließlich Internet oder Bluetooth. Dabei sind die Informationen in digitalen Formaten codiert, was oft eine schnellere und stabilere Übertragung ermöglicht.

Digitale Geräte arbeiten also mit diskreten, codierten Informationen, während analoge Geräte direkt auf kontinuierliche physikalische Signale reagieren. Dieser Unterschied prägt letzlich auch unsere Interaktion mit Technik und den Medien, die wir nutzen.

Vor allem aber benötigen analoge Geräte Zeit, Geduld und Muße. Genau die drei Dinge, die wir in unserer komplexen, beschleunigten, durchdigitalisierten Welt fast nicht mehr haben. Platte auflegen, mit dem kleinen Staubbürstchen abbürsten, die Nadel aufsetzen, hinsetzen, lauschen. Zum nächsten Song zu springen ist deutlich aufwendiger und braucht viel mehr Präzision als einfach bei Spotify zum nächsten Song zu skippen. Man muss aufstehen, die Nadel vorsichtig anheben, sie präzise und sanft auf die nächste große Rille setzen, die einen neuen Songanfang markiert. Das macht man nicht einfach mal so.

Plattenhörer:innen hören sich einfach mal von vorne bis hinten die ganze Platte an. Zwingen sich so, auch einfach mal die Songs durchzuhören, die es nicht direkt in die persönliche Top-Drei schaffen. Man erweitert seine Bubble, in die man auch einfach mal Nicht-Ganz-So-Goutiertes rein- und durchlässt, statt wie bei Spotify einfach direkt weiter zu skippen oder gar mit dem „Minus-Button“ dafür zu sorgen, dass der Algorithmus den Song nie wieder spielt und aus dem eigenen Spotify-Universum regelrecht ausmerzt. Das geht mit einer Platte nicht. Der ungeliebte Song hat für immer seine Daseinsberechtigung und bleibt auf der Platte.

Gelebte Vielfalt ist das. Und wir lernen, auch mal Nicht-Geliktes auszuhalten. Genau das verlernen wir aber derzeit immer mehr seit dem Siegeszug von Algorithmen und Digitalisierung und Bubble-isierung. Wir mutieren alle zur bräsigen Meinungs-Gedanken-Erfahrungs-Monokultur. Ich lasse nur noch das, was ich mag in mein Leben. Nur noch Lieblingssongs. Alles andere weg. Was Monokulturen mit der Natur anrichten, ist nichts gutes, wissen wir. Alles geht irgendwann ein, sie zerstören die Vielfalt und beschleunigen Schädlingsbefall. Am Ende ist alles kaputt. Gibt es da vielleicht auch ein paar Parallelen zur derzeitigen Demokratie in Gefahr … ?

Das gleiche mit analogen Fotogeräten. Die herrlich wackeligen unperfekten Aufnahmen sind doch die besten, die mit dem unvorteilhaften Gesichtsausdruck, die mit dem Doppelkinn, die mit dem herausquellenden Bauchansatz über der Jeans. So herrlich ungewiss, ob ein Foto etwas geworden ist oder nicht. Nichts kontrollierbar. Nichts ist perfekt. Kein dämliches Selfie, was man einfach sofort löschen oder mit zig Filtern in die vermeintliche Perfektion manipulieren kann.

Welch schöne Metapher fürs Leben. Alles gehört dazu. Das echte Leben besteht nun mal aus Blödem und Schönem. Alles gleichzeitig. Und das Leben besteht eben nicht nur aus Lieblingssongs und Hochglanzbildern von perfekten Augenblicken.

Achja, und das Umdrehen nicht vergessen, nach ein paar Songs ist die eine Seite zu Ende, und auf der anderen geht es dann weiter. Gleiche Prozedur. Platten hört man bewusst, man muss sich Raum dafür schaffen. Playlists laufen einfach ständig nebenher.


Meinen Sohn habe ich entirely an the digital world verloren

Wenn ich meinen 13jährigen Sohn frage – Generation Smartphone, Generation TikTok, Generation digital und dauer-online – analog oder digital, dann ist für ihn die eindeutige Antwort: Digital. Mit zunehmender Beklemmung und Sorge beobachte ich, wie sehr ich ihn schon an die zweidimensionale Welt aus Bits and Bytes verloren habe. Und ich dem einfach nichts mehr entgegensetzen kann. Er verbarrikadiert sich regelrecht in seinem Zimmer, die Jalousien werden runter gemacht, am helllichten Tag, und dann wird… gezockt. Nur ein kleiner Trost ist, dass Bekannte mit Teenagern das gleiche Phänomen kennen. Die Teenager-Verbarrikadierung vor der analogen Welt und der Rückzug ins Digitale. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass wir als Eltern-Generation, und die Generationen davor, das mit der analogen Welt irgendwie mächtig verkackt haben. Please look at the news and the derzeitige desaströse Allgemeinzustand of our lovely world. Der Rückzug und die Flucht ins Digitale ist dann vielleicht doch durchaus verständlich.

Stolz zeigte er mir neulich seine digitalen Assets in seinem Fortnite-Account. Er erklärte mir die Wichtigkeit von individuellen Skins und anderem schicken Zubehör. Und ja, er ballert dafür den Großteil seines Taschengelds raus. Früher holte man sich analoge bunte Tüten am Büdchen, heute holt man sich digitale bunte Skins in Online-Welten, um so dort seine Individualität auszudrücken. Ich habe meinen Sohn gelöchert mit Fragen wie „Aber das hat doch gar keinen „echten“ Wert alles, und kostet so viel Geld!“ Er darauf entrüstet: „Mami, das verstehst du nicht. Für mich hat das alles einen Wert. Einen riesigen Wert sogar.“ Es geht um Spaß, Humor und ja, auch irgendwie Ausdruck von Individualität. Ausdruck. Da haben wir es wieder. Und als er mir mit leuchtenden Augen und begeistert all seine Skins zeigt und die jeweilige Story dazu erzählt, spüre ich, ja, es hat einen Wert für ihn, ja, es bedeutet ihm etwas. Sehr sehr viel sogar. Und vielleicht muss ich es auch nicht verstehen. Und, Fun Fact am Rande: Auch Skins haben durch Limitierung und begrenzte Verfügbarkeit durchaus Sammlerwert.

Dennoch gebe ich nicht auf. Ich strampele mich ab, zerre und ziehe ihn in die „echte Welt“, will ihn von der Schönheit und der Magie der echten Magie überzeugen, lebe ihm die echte Welt vor. Aber ich ernte nur Widerwillen, Resistenz, Abneigung und Genervtheit der allerbesten Güteklasse. Und wahrscheinlich denkt er: „Alter, rausgehen ist voll lame.“ Oder „Bro, Natur ist echt nicht mein Ding.“ Oder „Digga, ich hab echt keinen Plan, was ich da draußen soll.“ Neulich fragte er zu mich: „Warum musst du immer so rummuttern? Warum bist du immer so mutterig?“ Weil es vielleicht nichts analogeres gibt als Mutterliebe und mütterliche Fürsorge. Und wie man aus grausamen Tierexperimenten weiß, verkümmern Babies und sterben, wenn sie zwar alles bekommen (ein Dach überm Kopf, Wärme und genug zu futtern) – ihnen aber die Mutter vorenthalten wird.


Warum wir analog brauchen

„Der menschliche Organismus ist ausgestattet mit Millionen Rezeptoren, die fortwährend Sinneseindrücke sammeln und weiterleiten. In den fast sieben Stunden des Tages aber, die ein durchschnittlicher Bundesbürger heute auf Bildschirme starrt, reduziert sich das im Wesentlichen aufs Hören und Sehen. Der moderne Mensch ist wie ein an Armen und Beinen gefesselter und geknebelter Fünfkämpfer. Kein Wunder, dass viele von uns weit unter ihren Möglichkeiten leben.“ (brand eins, 08/2024, S. 152)

Let´s face it:  In der digitalen Welt gehen gehen immer mehr Sinneseindrücke verloren. Sie verschwinden einfach. Wie riecht z.B. ein digitales Klassenzimmer im Vergleich zu einem Klassenzimmer mit Kreidetafel und vergammelten Schwämmen im Waschbecken? Was geht eigentlich alles verloren durch die Digitalisierung? Ja, wir gewinnen auch ganz viel, keine Frage, aber es bleibt eben auch einiges auf der Strecke.

Verkümmern unsere Sinne vielleicht sogar, wenn wir sie nicht mehr richtig nutzen, sie keine oder immer weniger „Analog-Trigger" bekommen? Wir ihnen nicht mehr ausgesetzt sind? Und was hat das für Konsequenzen? Wie riecht eine digitale Welt? Wie schmeckt eine digitale Welt? Eigentlich … gar nicht. Oder?

Wir haben schon jetzt viel zu viel Digitalisierung. Die Bildschirme um uns herum flimmern in unendlichen Formaten und Inhalten, und während wir die neueste App herunterladen oder die neuesten Updates auf unseren Geräten checken, bohrt sich eine merkwürdige Sehnsucht nach dem Analogem in uns. Eine Sehnsucht nach dem Greifbaren, dem Spürbaren, dem Einzigartigen.

Denn wir Menschen sind nun mal fühlende und spürende Wesen. Selbst ein digital per App gesteuertes Massagerät übersetzt die Befehle in eine analoge Schwingung, die dann das vermeintlich „jote Jeföhl“ in uns auslösen sollen. Vor allem löst es aber vielleicht aus: Digitaler Schnickschnack, nein Danke. Denn warme Hände und warmes Öl einer erfahrenen Masseurin auf der Haut zu spüren, die Nähe, die Hingabe, der echte Kontakt, that´s the real good stuff.

Mit digitalen Malprogrammen rumzutüfteln kann Spaß machen. Aber mich bringt es irgendwann nur zur Verzweiflung und macht mich aggressiv, weil ich die ganzen Funktionen und Layer und Ebenen nicht verstehe und ich mit dem Zuviel an Möglichkeiten komplett überfordert bin. Aber so ein Pinsel in der Hand, gedankenverloren in Farbe rumzumatschen und einfach loszupinseln, ist anders. Besser. Echter. Ehrlicher. Mein ganzer Körper, meine Sinne, sind mit involviert.

So ist "analog" wie die echten, tollen Sachen, die wir in der Hand haben können, während "digital" die Zahlen und Bildschirme sind, die wir manchmal sehen, aber nicht anfassen können. Ja, ich kann den Bildschirm anfassen. Aber, merkste selber, oder?

Ich glaube, wir haben alle eine Sehnsucht und ein Bedürfnis nach traditionellen, greifbaren Erfahrungen. Und da nun alles immer digitalisierter wird, wird das Analoge mehr und mehr zu etwas Mysthischem und Magischem. Für meinen Sohn ist es unvorstellbar, und ich meine wirklich - UNVORSTELLBAR - dass es mal eine Zeit ohne Internet und Smartphone gab. Was hat man denn da früher eigentlich den ganzen Tag gemacht? Und wie hat man sich ohne Navi in der Welt zurecht gefunden? Ohne Google Maps? Ohne alles vorher minutiös zu recherchieren und schon zu wissen? Tja, man hat sich halt irgendwie in vollstem Vertrauen jeden Tag aufs Neue ins Unbekannte gestürzt und sich verlaufen, verirrt, Erfahrungen gemacht und irgendwie seinen Weg gefunden.

Auch für mich als Mutter ist es mittlerweile unvorstellbar, meinen Sohn ohne digitales Endgerät in die Welt zu lassen. Ich bin als 9jährige 1989 jeden Tag allein durch das riesige Berlin gefahren. Ich habe mich als 12jährige, 1992, mal so richtig verfahren auf dem Weg ins Schwimmbad in einer neuen Stadt und bin stundenlang laufend umherr geirrt. Somehow, I made it home. Meinem Sohn (und anderen geliebten Menschen) kann ich dieses Verlorengehen und unsichtbar und unerreichbar in der Welt rumirren nicht zugestehen. I would die. Wie haben das meine Eltern damals ausgehalten?

In den letzten Jahren erleben wir eine Renaissance des Analogen. Von Vinylplatten, die wieder in den Regalen stehen, bis hin zu Polaroid-Kameras, die den Zauber und des Spaß des Sofortbildes zurückbringen – die Sehnsucht nach Analogem ist spürbar. Wir suchen nach der haptischen Erfahrung. Ja, es mag anstrengend und langwierig sein, einen Film zu entwickeln oder einen alten Plattenspieler zum Laufen zu bringen, aber genau diese Mühe und die investierte Zeit macht das Ergebnis so wertvoll. Wenn wir ein Bild von einem Ereignis in der digitalen Wolke speichern, bleibt das Erlebnis flüchtig. Wenn wir jedoch ein Foto in einem Album aufbewahren, erzählen wir eine Geschichte. Es ist die Geschichte unserer Erinnerungen, festgehalten in der physischen Welt, die uns immer wieder daran erinnert, wer wir sind.

Die Welt hat viel mehr zu bieten hat als das, was wir durch die Bildschirme wahrnehmen. Es geht nicht darum, die Digitalisierung abzulehnen, sondern vielmehr darum, sie mit dem Analogen (wieder) in Balance zu bringen. Es ist die Mischung, die uns lebendig hält. Eine Welt, in der wir den Komfort der Digitalisierung genießen, ohne die Magie und Kraft der analogen Erfahrungen zu verlieren – das ist sie vielleicht, die schöne, neue Welt.

Was, wenn das Gegenteil von Digitalisierung nicht das Überflüssige, sondern das Wesentliche ist? Was, wenn wir durch das Streben nach immer mehr Pixeln, Daten und Informationen die Essenz dessen verlieren, was das Menschsein ausmacht? Analog ist die Rückkehr zu den Wurzeln. Die Magie von Analog ist vielleicht nicht nur eine Hommage an das Vergangene, sondern ein Aufruf, unsere Sinne wieder zu nutzen, unseren Blick zu heben und die Schönheit unserer unperfekten Welt zu umarmen. So wird der Mensch wieder zu dem, was er ist: ein fühlendes, denkendes, unvollkommenes Wesen – und vielleicht gerade deswegen, ein nicht digitalisierbares, analoges, nicht planbares, nicht berechenbares, nicht vorhersehbares, freies, wunderbares, chaotisches, echtes Wunder.


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