Warum viele „Spiegel-Bestseller“ für mich keinen Wert (mehr) haben

Über Autorinnenfrust. Doping auf dem Buchmarkt. How to hack the Spiegel-Bestseller-Liste. Und den (naiven) Wunsch, eine Balance zu schaffen zwischen Kunst, Idealismus und Business.

Warnung und Rahmen vorneweg: Ich schreibe diesen Artikel aus der Perspektive einer frustrierten, resignierten Autorin. Einer Autorin, der man in diesem Gefühlszustand auch „Neid“ vorwerfen könnte. Und ja, ich gebe ganz offen und unumwunden zu, ganz frei machen kann ich mich vom neidisch-sein nicht. But, well, I´m just a Mensch.

Jeder, der schreibt, jede, die das mit dem Autorinnen-Dasein wirklich ernst meint, träumt davon, einmal auf der Spiegel-Bestseller-Liste zu stehen. Ein Platz auf dieser Liste ist (oder war - dazu später mehr) wie einen Oscar zu bekommen, ein Ritterschlag. Und so wie jeder Fußballer einmal die Champions-League gewinnen oder mit seinem Land Weltmeister werden will, so wie jede Wissenschaftlerin vom Nobelpreis träumt, so wie jede Sportlerin einmal Olympia-Gold holen will, so will jede:r Autor:in wenigstens einmal diesen begehrten roten Aufkleber auf seinem/ihrem Buch kleben haben. Dieser Aufkleber, der sich wie ein Diamantumhang ums Ego gehüllt anfühlt. Oder anfühlen muss. Ich weiß es ja nicht, denn ich hatte noch nie die Ehre.

Denn natürlich will und wollte auch ich immer dieses Ding. Seit ich schreibe und Bücher veröffentliche, bin ich auch immer mit dem Herzenswunsch an den Start gegangen, es irgendwie und irgendwann mal in und auf diese verdammte Liste zu schaffen. Und ich habe in den letzten 15 Jahren viel geschrieben und veröffentlicht, u.a. insgesamt 15 Bücher. Und ziemlich viel ausprobiert.

Kurzer Abriss meiner bisherigen Autorinnen-Odyssee

Liste hin oder her, ich muss schreiben. Wichtige Dinge in meinem Leben trage ich selten mündlich vor, sondern schriftlich in Briefform. Das geschriebene Wort ist meine Klarheits-Sortier-Reflektions-Denkhilfe. Das mit dem Schreiben war irgendwie schon immer mein Ding. Meine Aufsätze wurden schon in der Grundschule vor der ganzen Klasse vorgelesen, weil sie offensichtlich so amüsant waren. Schon lange schreibe ich in Blogs und teile meine Gedanken, mit der Zeit wurden meine Texte „milder“, früher, so vor 10 bis 15 Jahren, war ich ziemlich krawallig drauf. Die Blogtexte von damals habe ich offline gestellt. Ist besser so.

Ich habe unter Pseudonym ein „freches und unverblümtes“ Buch über mein unreifes und ausschweifendes und - aus heutiger Sicht - mich selbst demontierendes Liebesleben geschrieben, veröffentlicht in einem kleinem Berliner Independent-Verlag. Das war damals die Zeit von „ChickLit“, Charlotte Roches Feuchtgebieten und Fifty Shades of Grey. Unter diesem Pseudonym habe ich noch zwei weitere Bücher geschrieben und in diesem Verlag veröffentlicht. Unter einem anderen Pseudonym (also sozusagen das Pseudonym vom Pseudonym) habe ich besagtes Buch nochmal heimlich als eBook selbst raus gebracht (der Verlag hielt das damals nicht für nötig, wer liest bitte schön eBooks?, das lohnt sich nicht) - und überraschenderweise damit einen eBook-Jahres-Bestseller gelandet, von dem ich knapp zwei Jahre ganz gut leben konnte, es wurde ein paar zehntausende Male runtergeladen und gelesen. In your face, arrogante Verlagsignoranz. Sogar der Spiegel und die FAZ haben damals darüber berichtet, ich führte sogar ein Interview mit einem Spiegel-Redakteur unter falschem Namen und mit geheimer Nummer. Niemand wusste, wer die Autorin war. Und das war und ist auch gut so.

Ich habe als Ghostwriterin bzw. „Co-Autorin“ fünf Bücher für Persönlichkeiten und Unternehmer:innen hauptsächlich aus der Coaching- und Speaker:innen-Szene geschrieben. Spirituell angehauchte Ratgeber-Literatur für Selbstoptimierung, Erfüllung, Lifestyle, Erfolg und so.

Ich habe zwei Sachbücher im Gabal-Verlag zum Thema Eigen-Marketing und Eigen-PR geschrieben. Im DTV-Verlag ein launig-freches Buch zum Thema „Alltagssünden“ geschrieben.

Im Eigenverlag drei Buchprojekte über die Kölner Fashion-Szene (zusammen mit einer erfolgreichen Influencerin), ein Buch übers Mama-Sein (zusammen mit zwei anderen Müttern, genau zu der Zeit, als „Mom-Guilt“, „Regretting Motherhood“ und „Mental-Load“ ganz neue Begriffe wurden) und einen launigen Roadtrip-Selbstfindungs-Roman.

Daneben noch einige eBook-Projekte, die ich aber so gar nicht mehr als erwähnenswert betrachte.

Ich hatte viele, viele weitere Buchideen, habe viele verschiedene Exposés zu unterschiedlichen Themen verfasst, bin immer wieder an Verlage und Agenturen heran getreten – but, well, nothing. Ohne Erfolg. Wahrscheinlich war und bin ich zu „verbrannt“ als Autorin mit meinem kleinteiligen Experimentier-Gepuzzle, etwas, wovon auch die kongeniale Bestsellerautorin Romy Hausmann in ihrer legendären Speech beim von mir organisierten „Geile Uschi Kongress 2019“ erzählte. Ihre Speech übers Versagen, Scheitern, Dranbleiben und Weitermachen ist auch mit ein Grund dafür, dass ich einfach weiter mache und weiter schreibe. Und wenn es „nur“ hier ist auf meinem kleinen, bescheidenen Blog. Denn ich muss schreiben. Und ich will schreiben. Ich habe eine Tastatur in meinen Genen, einen Lamy-Füller in meiner DNA.

Aber viel wahrscheinlicher war und bin ich zu „non-fame“, war und bin ich nicht prominent und berühmt genug und habe einfach nicht genug Follower:innen und, here we go, das Gold des 21. Jahrhunderts, Reichweite. Gilt nicht nur für Elektro-Autos. Reichweite, Baby, is all you need in dieser Welt.

Ziemlich genau und ziemlich schmerzhaft erinnere ich mich daran, dass ich, es war vor so ca. drei Jahren, den Fuß in der Tür bei einer renommierten Literaturagentin hatte. Sie fand das von mir angebotene Buch-Projekt, es ging um gute Absichten und gute Werte, nicht so überzeugend (Zitat: „Die Buchwelt ertrinkt gerade in Weltverbesserer-Büchern, die will gerade keiner mehr lesen.“). Außerdem stünde es mir als Nicht-Wissenschaftlerin bzw. Nicht-Expertin überhaupt gar nicht zu, mir zu solchen Themen Gedanken zu machen und darüber zu schreiben, geschweige denn, ein Buch darüber zu veröffentlichen. Weil jede:r Autor:in müsse Expert:in auf seinem/ihrem Gebiet sein. Alte Positionierungs-Buchmarkt-Regel. You must earn the right to write. Und du musst in eine klare Schublade passen.

Aber, immerhin, sie fand meine Schreibe toll und kraftvoll und ermutigte mich zu einem anderen Projekt. Gemeinsam arbeiteten wir heraus, was gut zu mir passen würde und was mit einer „Positionierung“ vereinbar wäre. Es sollte schließlich um modernes, freches, cooles „female empowerment“ gehen, ich war damals noch schwer aktiv mit meinem Projekt, dem „Geile Uschi Kongress“. Und so ließ sie mich mehr als ein halbes Jahr an einem Exposé dazu arbeiten, welches immer wieder überarbeitet werden musste und sie nie zufrieden stellen konnte. Die Arbeit daran hat mich ein halbes Jahr ziemlich in Beschlag genommen. Und dann, dann kam sie von der Buchmesse. Und sagte, sinngemäß: „Henriette, Frauen-Bücher will keiner mehr. Der Buchmarkt ist gerade überschwemmt davon, niemand hat mehr Bock drauf. Und außerdem wollen Verlage im Moment nur noch Bücher von Promis und Influencern mit viel Reichweite, und denen ist es dann auch völlig egal, worüber und wie die schreiben, und ob die auch überhaupt selbst schreiben. Der Inhalt ist völlig egal. Aber da haben sie einfach eine sichere Verkaufsnummer. Solche Bücher verkaufen sich einfach von ganz alleine.“ Daraufhin trennten sich dann, auch aus anderen Gründen, unsere Wege.

Hängen geblieben ist bei mir auch, als mir die Schauspielerin und Unternehmerin Ines Quermann, die ich als Rednerin zum dritten „Geile Uschi Kongress“ eingeladen hatte, ganz begeistert erzählte, sie wurde von einem großen Verlag kontaktiert, der sie gefragt hatte, ob sie nicht Lust hätte, ein Buch zu schreiben. Und zwar - Zitat - „völlig egal, über was“. Hauptsache, es steht halt Ines Quermann drauf, bekannt aus Funk&Fernsehen. Ich bin Fan von Ines, und vor allem von ihrer Geschichte - und ich gönne Ines von ganzen, ganzen Herzen ihren Bucherfolg. Wirklich. Dennoch gab es mir einen Stich. Ich ackere und rackere mich ab. Mache mir Gedanken, schreibe und schreibe und schreibe. Aber der Buchprinz auf seinem weißen Bücher-Ross, der mir einen weiteren tollen Verlagsvertrag oder die Agentin, die an mich glaubt und mich supported, kommt halt einfach nicht angeritten.

Wenn es nicht mehr um die Kunst und Inhalte geht. Sondern nur noch um Reichweite, Prominenz und Verkaufszahlen.


Und here we are. The Kern of my Frust. Ja, ich war frustriert. Resigniert. Wütend. Nicht nur die erneute Ablehnung und wieder ein „Nein“. Sondern es war auch die Ohnmacht und Machtlosigkeit, auf diesem Markt irgendwie nie eine weitere, neue Chance zu erhalten. Denn das, was „meine Fast-Agentin“ da sagte, bestätigte, was ich auch schon lange wahr nahm und beobachtete.

Immer mehr Bücher - vor allem auf dem Sachbuchmarkt - kommen auf den Markt, die einfach ein Produkt sind. Ein Produkt von irgendwie „famen“ und reichweitenstarken Persönlichkeiten, Influencer:innen, Promis, Unternehmer:innen. Bücher, die schnell zusammen gezimmert und in den allermeisten Fällen geghostwrited, also so gut wie nie von den „Autor:innen“ selbst geschrieben werden (ich spreche aus eigener Ghostwriter-Erfahrung). Denn die meisten dieser Persönlichkeiten können gar nicht schreiben oder haben die zeitliche Kapazität dafür. In den meisten Fällen beides.

Und wo z.B. bei wissenschaftlichen Arbeiten strengste Regelwerke gelten, Plagiatsversuche hart verfolgt, geahndet, verrissen und öffentlich auf immer und ewig verachtet werden, so kann sich jede:r, der/die es sich leisten kann, schlicht und ergreifend auf dem Buchmarkt einkaufen und mit Autor:innen-Federn schmücken, die nicht seine sind. Es liegt immer an den Ghostwritern selbst, was sie ausverhandeln, ob sie im Buch zumindest als „Co-Autor:in“ genannt werden oder als „Redaktion“. Oder ob sie bereit sind, ihr Ego hinter das des anderen zu stellen und als Ghost wirklich komplett zu verschwinden. Bei meinen Ghostwriting-Projekten war ich fein damit, und ich habe mich bewusst darauf eingelassen. Dennoch sehe ich das mittlerweile immer kritischer – und ich fände eine Art „Kennzeichnungspflicht“ irgendwie einfach … fair. Nicht um des Ghostwriters Willen, sondern dass ein Autor, der kein Autor ist, wenigstens die Eier hat, klar zu sagen: Hey Leute, ich hatte was zu sagen, ich wollte das in Buchform veröffentlichen - und da ich dafür keine fachliche Schreibkompetenzen noch zeitliche Kapazitäten hatte, habe ich mir dafür Hilfe geholt. Was ist dabei? Ich glaube, niemand würde demnjenigen das übel nehmen. Im Gegenteil. Wobei: Das eigene Ego, natürlich.

Und auch für die Verlage ist das ziemlich sexy. Und verdammt einfach. Denn es ist einfach nur simpelste Verkaufsmathematik. Eine Influencerin mit 300.000 Follower:innen, die über ihre Erleuchtung oder ihren Chihuahua oder auch ihren erleuchteten Chihuahua schreibt (bzw. schreiben lässt), bringt dieses Buch auf den Markt. Ihre Fans kaufen das, natürlich. Und wenn auch nur 10 Prozent ihrer Fans das Buch kaufen, macht es direkt  schon mal 30.000 mal fett Katsching in der Kasse. Zum Vergleich, mein Buch „Das macht man doch nicht“, erschienen 2013 im DTV-Verlag, hatte eine Gesamtauflage von gerade mal 3.000 Stück. Und mit 30.000 verkauften Exemplaren, meist auch so konzertiert, dass alle auf einmal gekauft werden, denn das Buch wird ja schon seit Monaten promoted und angeteased - und endlich ist es da und erhältlich - und der Run ist groß - und schwupp, sind die Amazon- und Spiegel-Bestseller-Listen automatisch geentert und in Beschlag genommen. So einfach ist Tennis.

Finally: How to hack the Spiegel-Bestseller-Liste


Und da haben wir auch schon, so finde ich, das kleine Problem und die himmelstinkende Ungerechtigkeit. Denn man kann sich nicht nur Bücher und das Label „Autor:in“ erkaufen - sondern mittlerweile auch den Platz auf der Spiegel-Bestseller-Liste. Man muss es nur clever und strategisch angehen, generalstabsmäßig planen und die entsprechenden Ressourcen dafür haben, nutzen, benutzen und ausnutzen. Es ist ein simpler Life-Hack.

Also, how to hack the Spiegel-Bestseller-Liste? Here we go.

Man sei, also nur mal so hypothetisch, zum Beispiel ein erfolgreicher Unternehmer. Und möchte all sein Wissen und seine Erfahrungen teilen. Und an die Welt weiter geben. Inspirieren. Seine Visionen teilen.

Dann schreibt man ein Buch. Bzw. lässt es schreiben. Denn als Unternehmer ist man ja viel beschäftigt und macht big Business allerortens, man muss ein Unternehmen leiten und managen, wo soll da auch die Zeit her kommen, sich mehrere Monate am Stück hinzusetzen, ein Buch zu konzipieren, es zu strukturieren und sich Absatz um Absatz in halbwegs gut lesbarem Deutsch aus dem Hirn zu quetschen? Der Ghostwriter wird eingekauft und höchstwahrscheinlich auch aus der Unternehmenskasse bezahlt. Ist ja nicht verwerflich, denn das Buch dient ja auch dem Unternehmen, wenn der Boss gut da steht. Buch quasi gleich Marketingtool, zwei Fliegen mit einer cleveren Klatsche, Marketing for the Boss als Personality und Marketing for the Company. Genial.

Während des Schreibprozesses wird parallel an der Buchvermarktungsstrategie gearbeitet. Höchstwahrscheinlich wird an der Vermarktung des Buches sogar doppelt so viel gearbeitet wie am Buch selbst. Denn wie sagte Henry Ford schon so schön: Wenn du einen Dollar in die Produktion deines Autos investierst, musst du zwei Dollar in dessen Marketing stecken. Logisch.

Und dann geht es los: Schon Monate vor der Fertigstellung des Buches werden fame Testimonials behelligt gebeten, denn als erfolgreicher Unternehmer hat man ja Connections zu den ganz Großen, Vorworte und begeisterte Empfehlungen zu schreiben oder in Kameras zu sprechen.

Verkaufs- und Marketing-Funnel und Landing-Pages werden aufgebaut. Die gesamte 100köpfige Mannschaft des Unternehmens wird für die Vermarktung des Buches eingespannt, Grafiker:innen, Copywriter:innen, und natürlich die gesamte Marketing-Mannschaft, die Funnel- und Social-Media-Strategien erarbeitet und umsetzt.

Dann wird die Community, die hunderttausenden Fans des Unternehmens, auf die Reise mitgenommen. Monatelang im Voraus wird das Buch immer wieder geteased und gepitched. Man darf und kann schon jetzt vorbestellen. Und der Autor „empfiehlt“, doch einfach gleich zwei Exemplare zu bestellen. Und wenn man gleich zwei bestellt, bekommt man sogar einen Goodie - einen kostenlosen Masterclass-Online-Kurs. Wie nett wir doch als Autor sind, oder? So uneigennützig. Und was wir der Welt alles zurück geben!

Der Autor nutzt dafür nicht nur seine eigenen Social-Media-Kanäle, sondern direkt auch die seines Unternehmens, welches, wie praktisch, sehr, sehr, sehr, also wirklich sehr, sehr viel Reichweite hat.

Wenn das Buch dann endlich da ist, wird das natürlich gefeiert. Und der Autor lässt sich feiern. Völlig verständlich und nachvollziehbar, schließlich war der Schreibprozess auch intensiv und jeder Autor, jede Autorin, ist einfach wahnsinnig stolz, wenn das eigene Buchbaby dann endlich das Licht der Welt erblickt. Das darf und muss dann auch gewürdigt werden.

Und dann schaltet die Marketing-Maschinerie erst so richtig hoch. Die instrumentalisierte scharf und heiß gemachte Community erhält endlich die vorbestellten Bücher - und sehr gern kommt sie der eindringlichen Bitte des Autors nach, direkt noch ein paar Bücher zu bestellen. Und das Buch doch bitte gleich mal auch auf den eigenen Kanälen zu posten und zu empfehlen und zu verlinken und zu taggen und überhaupt. Und - das allerwichtigste -  direkt auch bei Amazon die so wichtigen fünf Sterne zu vergeben und fleißig ausführliche Bewertungen zu schreiben. Und so erscheinen dann auch schon direkt am Erscheinungstag zigfach Top-Bewertungen und Top-Rezensionen, davon kann ein „normaler Autor“, eine „normale Autorin“ nur träumen. Ein Schelm, wer „das kann doch gar nicht hinhauen“ dabei denkt. Einfach Wahnsinn und beeindruckend, wie schnell die Fans des Unternehmers das Buch lesen, an nur einem Tag müssen sie es durchgelesen haben, sie müssen wirklich sehr, sehr doll auf dieses Buch als Heilsbringer gewartet haben müssen. Respekt. Interessant aber auch, dass es so gut wie keine Bewertungen unter fünf Sterne gibt. Ein echtes statistisches Wunder. Da, wo Geschmäcker und Meinungen normalerweise divers und heterogen sind, sind hier auf einmal, entgegen jeglichen normalen menschlichen Verhaltens, sich alle homogen sehr einig, welch Meisterwerk sie da vor sich liegen haben.

Und dann, dann hüpft das Werk aus dem Stand in die besten Verkaufränge, was natürlich, oh, ich bin so überwältigt und überrascht, Danke, Danke, Danke, auf Social Media demütig geposted und gefeiert wird.

Und vielleicht bestellt der Autor auch über das Unternehmen, ergo die Unternehmenskasse, einfach ganz, ganz, ganz sehr viele Exemplare, kauft in Buchläden, oder lässt kaufen und lässt bestellen.

Kurze Zahlenüberlegung, kurzer Einschub: Wenn der Unternehmer, sagen wir mal, 50.000,00€ in die Hand nimmt, davon das Buch schreiben, produzieren und vermarkten lässt, davon auch selbst einige Exemplare kauft, kann der Unternehmer das alles sogar als Betriebsausgabe (Marketing, PR, whatever) absetzen. Und 50.000,00€ sind für einen Unternehmer ein Klacks. Peanuts. Portokasse. Für eine:n echte:n Autor:in bedeuten 50.000,00€ ein, vielleicht sogar zwei Jahre lang halbwegs von leben zu können.

Und vielleicht bietet der Unternehmer dem Verlag auch einfach an, ein paar kleine Verlagsanteile zu erwerben. Und dann drucken die noch mehr von den Büchern. Und dann arbeitet auch die Verlags-PR-Marketing-Maschinerie auf Hochtouren und tanzt nach des Unternehmers Pfeife. Well, life is a deal, na na nanana.

Und vielleicht bezahlt der Unternehmer auch eine externe Marketing-Agentur dafür, die auf “Buch-PR” spezialisiert ist und ihn dabei unterstützt, sein Buch mit Hochdruck zu pushen und zu promoten.

All die internen vielfältigen und wahrscheinlich recht kostspieligen Doping-Maßnahmen bekommen die Leser:innen und Käufer:innen natürlich im Externen nicht wirklich mit. Sie werden im Glauben gelassen, wow, dieses Buch muss ja der absolute Wahnsinn sein, dass der “Autor” so schnell so einen wahnsinnigen Erfolg damit hat. Das MUSS man ja gelesen haben!

Und Mensch, sieh an, was für ein Erfolg, zack, aus dem Stand, Spiegel-Bestseller. Und wieder, oh, wie überraschend, oh wie dankbar, Danke, Danke, Danke.

Und nur eine Woche nach Erscheinen des Buches klebt schon der begehrte, das Ego so warm umhüllende, rote Button auf dem Buch. Und der Unternehmer darf sich fortan for the rest of his life Spiegel-Bestseller-Autor nennen, bis in alle Ewigkeit. Was sein Ansehen und seine Reputation, nach der er so sehr strebt und sich sehnt, in Champions-League-Sphären katapultiert.

So einfach ist Tennis. So einfach wird die Spiegel-Bestseller-Liste gekapert. Bitteschön. Gern geschehen.

Legales Doping auf dem Buchmarkt & Schrottprodukte bei Amazon


So oder so ähnlich wird es tatsächlich gemacht. Vor allem auf dem Sachbuchmarkt. Immer wieder. Ein offenes Geheimnis.

Und nun die Frage: Ist das verboten? Illegal? Nein. Absolut nicht. Ist das nachvollziehbar? Klar. Würde ich es auch so machen, hätte ich all die Ressourcen? Ich müsste wahrscheinlich lügen, würde ich hier „nein, auf gar keinen Fall“ sagen. Und dieser Versuchung sehr, sehr, sehr vehement widerstehen. Schließlich sind wir Menschen alle, jeder, jede von uns, angetrieben von der Sehnsucht und Gier nach Anerkennung, Wertschätzung und Bedeutung, danach, gesehen und bewundert zu werden.

Und auch der Spiegel-Bestseller-Liste kann man keinerlei Vorwurf machen. Denn wie der Name es schon sagt, geht es hier um eine Liste, die zeigt, welche Bücher sich am besten verkaufen.

Jedoch: Niemand schaut darauf, wie die fulminanten Verkaufszahlen zustande gekommen sind. Oder vielleicht schon. Aber es ist den Kurtor:innen der Liste schlicht und ergreifend völlig Latte.

Sind die guten Verkaufszahlen organisch entstanden? Hat sich ein Buch allein mit der Kraft seiner Wirkung, Kraft seines relevanten Inhalts, Kraft seiner Worte in die Liste gearbeitet? Oder eben vor allem „mit Hilfe“? Mit Doping? Denn ja, das oben beschriebene Vorgehen würde ich als eine Art „Doping“ bezeichnen.

Wenn immer mehr gedopte Bücher und deren Autor:innen sich Spiegel-Bestseller nennen dürfen, was ist das Label dann überhaupt noch Wert? Für mich verliert es seinen Wert. Massiv. Und schon lange. Ich kann diesem Wert, und das mag naiv klingen und ist es sicher auch - ich, einfach unverbesserlich - nicht mehr trauen. Mein Vertrauen ist völlig weg.

Aber das ist generell ein trauriges Phänomen unserer Zeit. So vieles ist einfach nur noch Schein und kaum mehr Sein. Und mit Schein lässt sich einfach so verdammt viel Geld verdienen. Siehe z.B. der ganze Bums rund um die Mechanismen von Social Media, Reichweite und Influencer-Business. Wir lassen uns blenden, verarschen und manipulieren von Zahlen und von Schein. Es war nie einfacher als heute, all diese Zahlen zu faken. Follower:innen kann man sich kaufen. Ebenso wie massig Fake-Rezensionen und Bewertungen, egal in welchem Business und in welcher Branche. Nichts ist mehr echt, nichts hat mehr die Chance, organisch zu wachsen und sich organisch zu entwickeln. KI und Bots machen das auch alles noch schlimmer.

Das z.B. völlig absurd und pervers mit Milliarden bewertete Einhorn-StartUp „Berlin Brands Group“ bringt unter anderem hip aussehende aber schrottplatzreife Produkte - z.B. u.a. unter dem Label „Klarstein“ auf den Markt. Privat Equity Unternehmen haben im letzten Jahr 700 Millionen Euro in die Berlin Brands Group gesteckt. Ich hatte mal einen kleinen Mini-Kühlschrank von denen bestellt, über 1000 positive Amazon-Bewertungen. Allein das hätte mich schon skeptisch machen müssen. Abgesehen davon, dass das Ding eine lächerlich minimale Kühlleistung hatte, gab es nach nur 4 Monaten völlig den Geist auf. Rückgabe, Garantie, Umtausch, den Verkäufer kontaktieren? Unmöglich. Klar ist, die Millionen werden hier sicher nicht in die Qualität der Produkte gesteckt. Von Nachhaltigkeit ganz zu schweigen. Sondern einzig und allein in deren Vermarktung und Marketing. Auch hier. Nur Schein. Null Sein. Nur Quantität. Null Qualität. Nur Verkaufszahlen. Und komplette Verbraucher:innen-Verarsche.

Das kleine, feine, schöne, Gute wird erdrückt davon. Hat keine Chance, hier zu bestehen. Und genau das ist das Beschissene an der Welt, in der wir gerade leben.

Ich gönne jedem „echten Autor“ und jeder „echten Autorin“ jeden Platz auf allen Bestenlisten und nur die besten Verkaufszahlen. Ich weiß, wie viel Blut, Schweiß und Tränen, wieviel Arbeit, Zeit, Herzblut, Liebe und Energie in jedem Buch steckt.

Ich weiß, dass jedes Business ein Business ist. Auch das Buch-Business. Ich weiß, dass wir eine Welt geschaffen haben, in der die Zahlen und vor allem die Verkaufszahlen das Maß aller Dinge sind. Eine Welt, in der die mit den meisten Ressourcen, mit der meisten Manpower, den meisten finanziellen Ressourcen und den besten Marketingstrategien, und vor allem die mit der größten Unverfrorenheit und dem größten Ego das Sagen haben und sich alles aneignen, was sie sich mit ihren Ressourcen eben so holen können.

Vielleicht gelingt es uns ja, alles irgendwie doch mal ins richtige und wichtige Lot zu bringen. Eine Balance zu schaffen zwischen Kunst, Idealismus und Business.

Diese Naivität und diesen Glauben daran will ich mir nicht nehmen lassen.

P.S. Natürlich gibt es auch reichweitenstarke Persönlichkeiten, die tolle, wunderbare Bücher - selbst - geschrieben haben, z.B. Nina Brockmann und Tim Schlenzig.


MEHR BLOGARTIKEL