Gedankenblasen: Wenn unser Kopf ein Kino wäre

Neulich kam mir eine Idee bzw. ich stellte mir folgende Frage: Was wäre, wenn alle unsere Gedanken sichtbar wären? Wie würde das aussehen? Und wie würde sich das anfühlen? Und wie würde das unsere Kommunikation und unsere Interaktion miteinander beeinflussen?

Und sofort hatte ich ein Bild im Kopf: Wir tragen alle Gedankenblasen über unseren Köpfen, so wie in einem Cartoon. Ein riesiger Projektor würde unsere innersten Gedanken und Gefühle wie bunte Seifenblasen in die Luft projizieren. Die Welt wäre ein riesiges Festival der Gedanken, ein Rave der Reflexionen.

Das morgendliche Pendeln zur Arbeit würde sich in eine surreale Kunstinstallation verwandeln. Statt langweiliger Gesichter in der U-Bahn würden wir uns in einem Kaleidoskop aus Fantasien wiederfinden. Wir würden nach oben gucken, und nicht mehr nach unten in die Screens in unseren Händen.

Die Gedankenblasen würden in der Luft schweben – ein Mix aus Farben, Formen und verrückten Ideen. Und wir könnten endlich das Gefühl haben, dass unser eigener Gedankenstrom nicht der einzige ist, der so chaotisch und bekloppt und verwirrend und widersprüchlich ist. Das würde für Verbundenheit sorgen.


Die Welt würde ehrlicher werden.

Wir würden sehen, was wirklich ist. Wir bräuchten (und könnten es auch nicht mehr) uns nicht mehr zu verstellen. Keine Masken mehr tragen. Die Welt würde ehrlicher werden. Niemand kann irgendwem noch etwas vormachen. Wobei: Dann würde höchstwahrscheinlich augenblicklich eine Schwemme an Coaches ihre neuen Coachings, Mastermind und Onlinekurse anbieten mit Titeln wie „How to manipulate your thought bubble to get what you want from others“ oder „Gedankenblasen richtig lesen - dein Weg zu Reichtum, Macht und Erfolg“. Und Höhle-der-Löwen-Kandidat:innen würden um Investments für ihre Gedankenblasen-Unsichtbarmachumhänge – total praktisch und aus leichtem Polyethylen und miniklein zusammenfaltbar und voll customizable und skalierbar und jederzeit griffbereit und natürlich nachhaltig und totally fair in Portugal gemanufactured – pitchen, die es dann an den Kaufhof-Grabbeltischen zum Schleuderpreis für nur 4,99€ das Dreierpack geben wird.

Und was wäre mit den dunklen Ecken in unserer Köpfen? Diese schattigen Orte, die wir selbst vor uns verbergen, wie eine muffige Kiste auf dem Dachboden. Würden wir wirklich wollen, dass die Welt erfährt, dass wir manchmal an Kühlschränke denken, wenn wir versuchen zu schlafen? Oder dass wir Angst haben? Oder dass wir pleite sind? Oder dass wir uns hässlich und unsicher fühlen? Oder dass wir eine Schwäche für kitschige Liebesromane haben? Oder dass wir uns gerade den Chef in der Aktenvernichtungsmaschine vorstellen? Die Gedankenblasen könnten zu einem Tornado aus ungewollten und brisanten Enthüllungen werden.

Andererseits: In der Welt der Gedankenblasen würden Smalltalk und Höflichkeit eine neue Dimension erreichen. Statt "Wie geht es dir?" würde es heißen: "Dein Gedankenbubble gestern Abend war interessant. Welches Drama hast du im Schlaf durchlebt?" Wir könnten uns nicht mehr hinter Fassaden verstecken, und unsere oberflächlichen Unterhaltungen würden zu einem überdimensionalen, philosophischen Ping-Pong-Spiel werden.

”Ich sehe, du denkst GERADE über die Einführung von Pyjama-Freitagen nach.”

Die Arbeitswelt würde sich ebenfalls verändern. Meetings könnten plötzlich eine völlig neue Bedeutung bekommen. "Ich sehe, du denkst über die Einführung von Pyjama-Freitagen nach. Interessanter Ansatz!" Und Bewerbungsgespräche? Nun, die könnten zu einem theatralischen Spektakel werden, bei dem derjenige mit den kreativsten Gedankenblasen den Job bekommt.

Aber was ist mit der Privatsphäre, dieser geheimnisvollen Aura, die uns umgibt? Würden wir sie opfern, um in einer Welt der Transparenz zu leben? Oder würden wir uns in unseren Häusern verkriechen, um unseren Gedankenreichtum vor neugierigen Blicken zu schützen?

Wäre es gut oder schlecht, wenn unsere Gedanken sichtbar wären? Wie irgendwie bei allem: Ja. Und Nein. Es hätte radikale Vorteile. Und genauso radikale Nachteile. Wie alles. Wie Fortschritt. Wie Internet. Wie Social Media. Wie Wirtschaft. Wie Wachstum. Wie künstliche Intelligenz. Wie Technik.

In jedem Fall: In einer Welt der Gedankenblasen könnten wir lernen, einander besser zu verstehen, uns empathischer zu begegnen und unsere Worte mit größerer Bedacht zu wählen. Vielleicht würden wir auch erkennen, dass wir alle mit ähnlichen Unsicherheiten und Hoffnungen kämpfen. Oder aber, wir würden uns vor lauter Gedankenblasen verirren und feststellen, dass die wahre Magie im Mysterium des Ungesagten - und Ungedachten - liegt. Wie würde die Blase eines Zen-Mönchs aussehen? Wäre sie wirklich komplett leer?

Auch wenn ich es ziemlich aufregend fände, meine Gedanken in ineinander verlaufenden Pastellfarben durch die Luft schweben zu sehen: Zum Glück hinkt die die Tech-Industrie noch etwas hinterher. Noch ist die  Technologie der Gedankenblasenprojektoren nicht bereit für ihre große Premiere. Und bis dahin bleiben wir wohl einfach kreativ und verrückt - und denken immer mal wieder daran, dass jede:r seine und ihre eigene Geschichte in einer Gedankenblase trägt.

All graphics by AI via Midjourney.


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