Der Bibliothekar in meinem Kopf: Wer oder was entscheidet, woran wir uns erinnern?

Sich zu erinnern ist ein ulkiges und nicht greifbares Gefühl. Es verursacht Nostalgie und Melancholie. Aber wie funktioniert das eigentlich mit den Erinnerungen, die wir so haben und die urplötzlich, mir nichts dir nichts, auf unserer Gehirnleinwand aufploppen? Was löst welche Erinnerungen aus? Und wer oder was entscheidet, welche Erinnerungen aufploppen? Und was wäre, wenn wir keine Erinnerungen hätten?

Vor ein paar Tagen saß ich ein bißchen herum, starrte aus dem Fenster, und wie aus heiterem Himmel erinnerte ich mich an einen Nachmittag, den ich als Teenager-Mädchen, so um 1993, zu Hause mit meinen Freundinnen verbracht hatte. Ich lud mehrere Freundinnen ein, nach der Schule mit mir nach Hause zu kommen, wir machten uns gemeinsam etwas zu Essen, und dann alberten wir herum, so wie das 13 bis 14jährige Mädchen eben so tun. Wir tobten durch meine Wohnung (ich hatte sturmfrei, Mama und Papa waren arbeiten), sangen lauthals "Take-That"-Lieder, tanzten dazu und kicherten, bis wir Bauchschmerzen hatten.

Diese Erinnerung führte mich geradewegs zu einer weiteren Erinnerung aus dieser "Epoche", ich erinnerte mich an einen Nachmittag mit einer Freundin, die ich eigentlich total doof fand (warum wir Mädchen dann trotzdem befreundet sind, ist mir ein Rätsel), dennoch hatten wir Spaß. Wir setzten uns in Mamas Plastik-Wäschekorb und schoben uns damit gegenseitig durch die Wohnung, setzten uns alberne Mützen auf und machten Fotos. Damals noch mit richtigem Fotoapparat, wo man den Film noch zum Entwickeln lassen wegbringen musste.

Diese Erinnerung führte mich wiederum, wie bei einer Schnitzeljagd, zur nächsten Erinnerung, dass ich bei besagter Freundin einmal die Woche Klavier üben durfte. Ich nahm nämlich Klavierunterricht, meine Eltern wollten mir aber kein eigenes Klavier kaufen, und so übte ich bei der Freundin, die ein Klavier hatte und die schon Klavier spielen konnte. Meine sehr alte Klavierlehrerin, sehr klassisch und Hallo-das-Klischee-lebt - mit grauem Dutt, lutschte immer Karamellbonbons, und als ich daran dachte, hatte ich sofort diesen süßen Geruch in der Nase und ihre knochigen Hände vor Augen, wie sie behände übers Klavier hüpften.

Und so starrte ich die ganze Zeit aus dem Fenster und ließ mich immer weiter durch einen ganzen Film von plötzlich ablaufenden Erinnerungen führen. Ich hatte dabei so ein ganz komisches Gefühl im Bauch. Ich wusste, dass das alles meine Erinnerungen sind, und dass das alles genauso geschehen ist, wie ich es gerade vor meinem Auge sah, aber es war auch gleichzeitig so unwirklich. Mein Teenager-Ich kam mir so fremd vor. So viel ist in der Zwischenzeit passiert, so anders mein Leben jetzt. Und trotzdem war ich mal eine 13jährige Henriette, die übermütig Wasserbomben vom Balkon auf Passanten schmiss und im Bademantel mit Freundinnen auf dem Balkon sang. Komisch fühlt es sich auch an, gerade WEIL es so lange her ist. Plötzlich bin ich traurig und ergriffen, weil ich begreife, wieviel Zeit schon vergangen ist. Jedenfalls ist sich zu erinnern ein ulkiges und nicht greifbares Gefühl. Wie es wohl 80jährigen geht, die sich an ihre Jugend erinnern? 

Wer oder was entscheidet, welche Erinnerungen aufploppen?

Sind Erinnerungen eigentlich Gedanken? Gedanken kann man steuern. Ich kann ganz bewusst denken "Och, heute is aber ´n Scheiß-Tag, alles ist doof!" und entsprechend schlechte Laune haben. Ich kann aber auch ganz bewusst denken "Okay, heute ist ein guter Tag!" und mir Mühe geben, keine schlechte Laune zu haben und only good vibes zu verbreiten.

Aber Erinnerungen ploppen einfach so auf. Die sind einfach da. Und ich frage mich: Wie geht das? Wieso ploppen Erinnerungen plötzlich auf, wieso sieht man plötzlich Situationen vor seinem inneren Auge abspielen, an die man Jahre nicht gedacht hat? Woran ist das gekoppelt? Was löst welche Erinnerungen aus?  Wer oder was entscheidet, welche Erinnerungen aufploppen?

Wahrscheinlich ist das alles bloß Biochemie, irgendwelche Nervenzellen agieren mit irgendwelchen anderen Nervenzellen. Ganz unspektakulär und unromantisch. Aber vielleicht sitzt da ja auch so ein kleines Männchen in meinem Hirn, wie in einem großen Erinnerungsarchiv, kramt jeden Tag in meinem Erlebnisarchiv, und legt, einfach nach Lust und Laune, die kleinen Erinnerungsfilmstreifen auf die Filmrolle und beamt sie an meine Hirnleinwand. Ja, so muss es wohl sein. 

In den unendlichen Weiten unseres Gehirns verbirgt sich eine Schatzkammer voller Erinnerungen. Manche wie funkelnde Diamanten, andere wie vergilbte Polaroid-Fotos. Aber sie alle sind ein integraler Bestandteil dessen, was uns zu dem macht, wer wir sind.

Der magische Moment des Erinnerns

Doch wie funktioniert dieser faszinierende Prozess der Erinnerung? Unser Gehirn ist eine komplexe Bibliothek, mit endlosen Gängen voller Bücher, die unsere Lebensgeschichte erzählen. Jede Erinnerung ist wie ein Buch, das in einem bestimmten Regal verstaut ist. Und wenn wir so durch diese Gänge wandern, öffnen sich die Bücher manchmal wie von selbst, die Seiten blättern zurück zu einem bestimmten Moment in unserer Vergangenheit.

Aber was genau löst diesen magischen Moment des Erinnerns aus? Manchmal ist es ein simpler Geruch, der plötzlich unsere Nase kitzelt und eine ganze Flut von Erinnerungen auslöst – wie der Duft von frisch gebackenen Keksen, der uns zurück in Omas Küche katapultiert. Oder es kann ein bestimmter Ort sein – wie der Anblick eines Sonnenuntergangs am Strand, der uns an einen romantische Abend mit einem alten Schatzi erinnert (oder vielleicht an die Zeit, als wir uns den Sonnenbrand unseres Lebens holten). Oder ganz oft ist es auch Musik, ein bestimmter Song, der uns elektrisiert und uns in eine bestimmte Situation oder auch ein ganz bestimmtes Gefühl beamt.

Erinnerungen haben die erstaunliche Fähigkeit, uns überall hin zu transportieren. Mit Zeitmaschinen zu reisen ist Utopie? Nein, ist es nicht. Denn Erinnerungen sind genau das. Zeitmaschinen. Damit können wir zwar nicht zurück in die Zukunft. Aber in so viele Momente und Zustände unserer eigenen Vergangenheit und persönlichen Geschichte. Zurück in die herrlich freien Momente unserer Jugend oder in die Tiefen des Schmerzes vergangener Zeiten. Sie können uns zum Lachen bringen, indem sie uns an komische Momente erinnern. Oder zum Weinen, indem sie uns Momente von Verlust und Trauer zeigen.

Oft machen uns Erinnerungen irgendwie melancholisch, denn Erinnerungen spiegel uns wieder, wie viel Zeit vergangen ist und wie sehr sich die Dinge verändert haben.

Würde es auch ohne Erinnerungen gehen?

Aber was wäre, wenn unser Gehirn ein riesiges Sieb wäre, durch das all unsere Erinnerungen hindurchrieseln würden, ohne auch nur einen einzigen Krümel zu hinterlassen?

Dazu ein kleines Gedankenexperiment: Wir wachen jeden Morgen auf, als wären wir ein leeres Blatt Papier, ohne eine einzige Zeile, die uns an gestern erinnert. Keine nostalgischen Rückblicke auf vergangene Abenteuer, keine Seufzer der Wehmut über verlorene Liebschaften, einfach … Nichts. Nur ein endloser Strom von Momenten, die wie Regentropfen auf einem glatten See verschwinden. Wir wären genau das, was alle Achtsamkeitsfutzies so propagieren: We would be completely in the moment. Wir wären genau jetzt.

Das klingt erstmal ganz gut, nach einem Neuanfang in jedem Moment. Wir wären Leere und Nichts, wir wären die Transzendenz in Person. Keine lästigen Altlasten, keine peinlichen Momente, an die man sich noch Jahre später erinnert und bei denen man sich am liebsten immer noch unter der Bettdecke verkriechen würde.

Aber wer bin ich denn denn eigentlich? So verlockend das mit den Ohne-Erinnerungen scheint, so traurig und erbärmlich wäre das. Ohne Erinnerungen wären wir nur wie ein Goldfischisch im Glas, der immer wieder vergisst, dass er gerade seine Runden schwimmt. Keine Erinnerungen bedeuten keine Identität, keine Geschichte, die uns zu dem macht, wer wir sind. Wir wären wie Schauspieler:innen auf einer Bühne, die vergessen haben, ihre Rollen zu lernen – ein ziemlich verwirrter Haufen von Wesen, die sich permanent fragen würden: "Was mache ich hier eigentlich?“

Und was wäre mit unserem Miteinander? Ja, ohne Erinnerungen wären wir wirklich die Meister:innen des "Hier und Jetzt", Vergangenheit und Zukunft wären für uns nur leere Hüllen ohne Bedeutung. Doch wie würden wir uns fühlen, wenn wir jeden Menschen, den wir treffen, jedes Gespräch, das wir führen, einfach wieder vergessen würden, als wäre es nie passiert? Ein endloser Reigen von Begegnungen, die wie Sandkörner durch unsere Finger rieseln, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen. Wir könnten auch gar keine Beziehungen eingehen, keine Freundschaften haben, keine Familie. Wir würden ohne Erinnerungen gar nicht funktionieren. Wir brauchen diese Festplatte, diesen Speicher.

Und was ist mit der Welt um uns herum? Ohne Erinnerungen wären wir wohl die größten Architekten des Augenblicks, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick, der nächsten Sensation, ohne Rücksicht auf das, was war oder sein wird. Ein Leben im Hier und Jetzt, das klingt zwar verlockend, aber irgendwie auch ein bisschen einsam.

Erinnerungen sind die Bausteine unserer Identität

So schmerzhaft manche Memories sind, so sehr manche Erinnerungen auch ein melancholisch-nostalgisches Ziehen in Bauch und Herz verursachen, so ist jede aufgeploppte und uns geschenkte Erinnerung ein kleiner Schatz. Ja, sie stecken manchmal wie kleine Stacheln in unserem Herzen,  aber sie sind doch das Salz in der Suppe unseres Lebens.

Erinnerungen sind wichtig. Wir brauchen sie. Sie sind die Bausteine unserer Identität – sie formen unsere Persönlichkeit, beeinflussen unsere Entscheidungen und prägen unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Und machen diese auch überhaupt erst möglich. Erinnerungen haben zu können, erst das macht uns zu Menschen.

Streifen wir weiter durch die Galerien unserer Erinnerungen, betrachten wir die bunten Gemälde, die dort an den Wänden hängen. Ohne sie wären wir einfach nur leere Hüllen, die im Wind verweht werden.

Erinnerungen geben uns ein Gefühl der Kontinuität. Sie erinnern uns daran, dass wir Teil einer größeren Geschichte sind, die lange vor unserer Geburt begann und noch lange nach unserem Tod weitergehen wird. Erinnerungen sind wie ein Kompass, der uns durch das Labyrinth des Lebens führt. Sie helfen uns dabei, die Vergangenheit zu verstehen, die Gegenwart zu schätzen und die Zukunft zu gestalten.


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