Ausgelesen: Dschinns
Um „Dschinns“ von Fatma Aydemir bin ich schon lange herum getänzelt. Als es 2022 erschien, schoss es schnell in die Bestsellerlisten und es wurde überall empfohlen und besprochen. Und ich als alter „Anti“ dachte deshalb auch erst mal: Och nö. Ebenso „och nö“ und „na und?“ dachte sich das arrogante deutsche Kartoffel-Blondie in mir bei der Beschreibung: Es geht im Kern um eine türkische Familie, es geht um Istanbul, es geht um die Türkei.
Fasziniert hat mich hingegen von Anfang an der Titel. Dschinns. Sind Dschinns nicht magische Zauberwesen? Geister?
Und so brauchte es eine Weile, bis ich doch bereit war für das Buch. Und es Mitte 2023 bei einem Zufallsbesuch in einer Buchhandlung plötzlich wieder vor mir lag, ich es in die Hand nahm, und ich diesmal statt „och nö“ ein klares „na gut“ fühlte und es kaufte. Vielleicht war das in der Tat die Magie eines Dschinns.
Und dann packte es mich. Sofort. Als hätte mich dieses Dschinn-Wesen in das Buch hineingezogen. Von der ersten Seite an. Vom ersten Satz an. Vom ersten Wort an.
Ja, es geht um eine türkische Familie. Vater. Mutter. Vier (erwachsene) Kinder. Die offensichtliche Tragödie geschieht direkt am Anfang. Der Vater stirbt ganz plötzlich. Die Ironie daran: In seinem neuen Appartment in Istanbul, für welches er sich sein Leben lang in Deutschland abgerackert hatte und in dem er seinen Ruhestand genießen wollte. Die Familie findet für die Beerdigungs- und Trauerfeierlichkeiten zusammen. Und es offenbaren sich Schicht für Schicht die anderen Tragödien der anderen Familienmitglieder.
Besonders fasziniert hat mich, wie Fatma Aydemir die Geschichte erzählt. Sie widmet jedem Familienmitglied einen langen Abschnitt. Das Buch hat so gesehen sechs lange Kapitel. Die Geschichte des Vaters und der Mutter erzählt sie aus der Du-Perspektive. Sie schreibt so, als würde sie Hüseyin und Emine ihre Geschichte erzählen. Spannend. Das habe ich so noch nirgends gelesen. Am Anfang fand ich es etwas ungewohnt, doch dann irgendwie … cool.
Die Geschichte der Kinder erzählt sie aus der (gewohnten) Erzählerperspektive. Die Perspektive so zu wechseln, auch das fand ich unglaublich interessant.
Die jeweilige Kapitel erzählen die Lebensgeschichten der jeweiligen Protagonist:innen. Wie sie ticken, warum sie geworden sind, wie sie sind, sie erzählt von ihren Sehnsüchten, ihren Geheimnissen, ihren Tragödien, ihren Widerständen, ihren Verzweiflungen, ihren Werdegängen, ihren inneren Gefängnissen. Fatma Aydemir erzählt das so gut und so spannend, dass es mir schwer fiel, das Buch wegzulegen, auch wenn mir die Augen manchmal vor Müdigkeit fast zufielen. Nein, kein Thriller, aber ein Pageturner.
Fatma Aydemir schafft es, mit jedem Kapitel und jeder jeweiligen Hauptperson sechs komplett verschiedene Lebens- und Gefühlswelten aufzubauen, in die ich als Leserin sofort eintauchen konnte. Und jede der sechs Hauptpersonen - Hüseyin, Ümit, Sevda, Peri, Hakan und Emine – eroberte, trotz aller Macken und Unterschiedlichkeiten - mein Herz. Ich konnte sie alle verstehen und nachfühlen, litt mit ihnen mit, jeder mit seinem ganz eigenen Päckchen und meistens auch mit einem ganzen Lebenspaket an - oft schockierender - Last auf den Schultern.
Faszinierend auch, wie Fatma Aydemir die einzelnen Kapitel miteinander im Hier und Jetzt verwebt. Wie sie Anknüpfungsstellen kreiert hat, in denen sich die Familienmitglieder begegnen und aufeinander treffen und miteinander interagieren, und wir ihnen dann aber wieder separiert davon in ihr Leben folgen dürfen.
Besonders bewundert habe ich die Sprache von Fatma Aydemir. Es sind Sätze dabei wie Diamanten. Klingt kitschig, ich weiß. Aber ist so. Ich habe mich beim Lesen wirklich manchmal gefragt, wie man bitte so einen Satz denken, fühlen, sagen, kreieren, schreiben kann. Voller aufrichtiger Bewunderung. Sätze so on Point. Sätze so scharf. Sätze, so präzise. Sätze, die die reinste Wort- und Sprachkunst sind. Und die mitten rein gehen. Ins Herz. Dschinn-Sätze eben.
Es sind Sätze wie diese:
„Dschinns“ von Fatma Aydemir:
Unbedingte Empehlung.
P.S. Mein Exemplar sieht leider so lädiert und mitgenommen aus, weil ich es bei einer Reise in meiner Tasche dabei hatte und leider in der Tasche eine Wasserflasche auslief.